Eine Nacht Containern: Leben aus der Tonne
Sie sammeln ihr Essen aus den Mülltonnen von Supermärkten: Containerer wie Max. Die taz hat ihn eine Nacht lang durch Hamburg begleitet.
HAMBURG taz | Als Max rausgeht, ist es trocken, das Nieseln hat wieder aufgehört. Max schließt sein Fahrrad auf, er hat es aus der Wohnung mitgebracht. Helm, Regenjacke, Helmlampe, Greifarm. Alles dabei, was man zum Containern braucht.
Die vor uns liegende Tour soll zehn Kilometer umfassen. Drei Stadtteile. Vier Supermärkte. Er macht heute nur die „kleine Tour“, die große umfasst zwanzig Kilometer. Zwanzig Kilometer mit dem Fahrrad, dreimal die Woche. Normal für Max.
Wir sind beim ersten Supermarkt angekommen. Die Straßenlaternen auf dem Gelände sind aus. Wir fahren Richtung Warenannahme. Es ist dunkel und man sieht kaum was. Max geht zielstrebig zum Container. Von der Biotonne daneben geht ein süßlicher, alkoholischer Gestank aus. Die Erdbeeren sind nicht mehr zu gebrauchen.
Der Spargel und die Gemüsezwiebeln sind auch hin. In der Biotonne ist definitiv nichts zu holen. Vielleicht im großen Container. Ein Netz voll Orangen. Eine ist voll grünem Schimmel. Alle anderen sind noch gut, die nehmen wir mit.
In Deutschland machen wir uns damit des Diebstahls strafbar. Zwar wurden die meisten Verfahren eingestellt, da kein besonderes öffentliches Interesse der Strafverfolgung besteht und die meisten Supermärkte auch keine Anzeige stellen. Doch gibt es auch Fälle, die mit einer Auflage von 60 Sozialstunden endeten.
Die Linkspartei hat im März 2012 Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner aufgefordert, das Containern straffrei zu stellen. Bisher gab es von der Ministerin darauf keine Reaktion. Unsere Nachbarn, Österreich und die Schweiz, sind da schon weiter: Wenn man keine Schlösser aufbrechen oder über Zäune klettern muss, ist es in Ordnung und man muss keinerlei strafrechtliche Verfolgung fürchten.
Von Polizisten erwischt
Muss man in Deutschland meistens auch nicht. Max wurde schon mal von diversen Sicherheitsdiensten und Streifenwagen erwischt, aber Konsequenzen gab es keine für ihn. „Die wollten nur meinen Ausweis sehen und haben mich gefragt, ob ich was gesehen hätte. Der stille Alarm ist wohl angegangen. Der war aber schon an, bevor ich da war. Dann sind die Polizisten einmal um das Gebäude gegangen und haben mir noch einen schönen Abend gewünscht.“
Manche Supermärkte kippen aufgestochene Joghurt- und Milchpackungen über ihre Tonnen, um Containerer fern zu halten. Da hat es Max besser getroffen. Er hat, bevor er mit dem Containern begann, mehrere Filialleiter angesprochen, ob er nicht die Lebensmittel die abgelaufen sind, von ihnen direkt bekommen könnte, ohne den Container als Zwischenstation. Nur einer der gefragten fünf willigte ein.
Die anderen hatten zu große Angst vor den Konsequenzen, da es Supermärkten verboten ist, abgelaufene Lebensmittel heraus zu geben. Nicht vom Gesetzgeber, sondern vom Mutterkonzern.
Die Supermärkte kooperieren auf ihre eigene Art. „Kurz nach Ostern, da hab ich zwei Paletten mit Osterhasen gefunden. Die waren nicht mal im Container. Die standen einfach daneben, so dass man sie ganz leicht sieht. Da fehlte eigentlich nur noch eine Karte dran.“ Max würde das als seinen bisher besten Fund beschreiben. An der Schokolade selber war nichts. Manche Hasen hatten die Ohren etwas eingedrückt oder an einer Stelle fehlte etwas Alufolie.
Als ich Max kennenlernte, war es halb zwölf nachts. Es war eiskalt, fing immer wieder an zu nieseln. Ich stand mit meinem Fahrrad vor der Tür eines Plattenbaus der neueren Generation in Hamburg-Wandsbek und klingelte bei Reinke. Kurz darauf ging der Summer, im ersten Stock stand Herr Reinke auf eine Krücke gestützt an der Tür und lächelte freundlich. Er ließ mich in seine Wohnung, und während er Schokocappuccino servierte, bot er mir das Du an. Seitdem ist er für mich Max.
Duschgel, Cola, Biospargel
Seit zwei Jahren sammelt Max seine Lebensmittel und alles, was er sonst zum Leben braucht, aus den Containern der Supermärkte. Noch nie musste er irgendetwas nachkaufen. Die Supermärkte haben ihn unbewusst bisher mit allem versorgt, was er brauchte, egal ob Duschgel, Cola oder Biospargel.
Seit Max von einem Auto angefahren wurde, macht ihm sein rechtes Bein zu schaffen. Er muss Medikamente nehmen. Seinen Beruf als IT-Fachmann weiter auszuüben, ist für ihn nicht möglich. Plötzlich musste Max mit dem Hartz-IV-Regelsatz auskommen. So wie die meisten seiner Nachbarn, viele Wohnungen in dem Plattenbau sind Sozialwohnungen. Vom Staat wird die Miete bezahlt, und Strom. Die Wasserrechnung müssen die Mieter selbst begleichen.
Bei vielen Nachbarn reicht das Geld nicht. „Am Ende ist bei vielen mehr Monat als Geld übrig“, sagt Max. Heute hatte er Soljanka gekocht – und damit das halbe Haus versorgt. „Wenn man kocht, riecht man das durchs ganze Haus. Dann kommen viele und fragen: ’Max? Kochst du wieder? Hast du einen Teller übrig?‘“
Nicht selten bildet sich vor dem Kochtopf eine Schlange, die bis ins Treppenhaus reicht. Und jeder im Haus weiß, dass die Lebensmittel gestern noch in der Mülltonne eines Supermarktes gelegen haben. Max selbst hat noch nie was weggeworfen. „Wenn ich etwas nicht brauchen kann, nehme ich es trotzdem mit. Ich lege die Sachen dann in einen Wäschekorb und stelle ihn vor meine Tür, mit einem Zettel am Korb ’Bitte den Korb stehen lassen‘. Der Korb ist immer nach kurzer Zeit leer, aber noch da!“
Altes Brot für die Enten
Wir sind beim letzten Supermarkt unserer Route angekommen. Es ist noch etwas kälter geworden, aus dem Nieseln wurde ein richtiger Regen. Wir fahren wieder hinter das Gebäude, zur Warenannahme. Plötzlich geht Licht an. Eine Neonröhre summt über uns.
Diesmal keine Biotonne. Dafür stehen dort mehrere Körbe mit Brot, Brötchen und Franzbrötchen. Alles ist steinhart. Essen kann man es nicht mehr. Max nimmt es trotzdem mit. Er schneidet es klein und füttert damit die Enten.
Eine kleine Schale Light-Mozzarella und vegane Schnitzel sind zu finden. Alles ist klebrig. Eine Packung Zucker ist kaputt gegangen und der Regen hat den Rest gemacht. Auch ein Tiefkühlgericht wird gefunden.
Max lässt es liegen. Es ist zu warm, das wäre bis zu Hause komplett aufgetaut, und außerdem ist Max’ Eisschrank schon komplett voll. Sogar Baumkuchen finden wir, er ist sogar noch drei Monate haltbar.
Beute auf dem Tisch
Mehr ist hier nicht zu holen. Wir machen uns auf den Rückweg, der Regen wird weniger. Wieder bei Max in der Wohnung, begutachten wir unsere Beute. Der Wohnzimmertisch ist knapp voll. Es sieht etwas wenig aus. „Sonst ist es mehr!“, versichert Max. Es wird erst mal alles abgespült. Auch wenn kein Zucker ausgelaufen ist, macht er das so.
Weil die guten und die schlechten Sachen alle zusammen im Container liegen. Was Max davon brauchen kann und was nicht, wird er später entscheiden. Was er nicht brauchen kann, wird im Wäschekorb vor seiner Tür landen. Oder er wird wieder das ganze Haus bekochen.
Als ich rausgehe, ist es halb fünf und es nieselt wieder. Langsam wird es hell. Ich schließe mein Fahrrad auf. Den Baumkuchen nehme ich mit.
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