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Archiv-Artikel

Eine Insel im Ghetto

Loïc Wacquant schrieb eine fulminante Sozialstudie über den Körper des Boxers und die Macht der Gesellschaft. Zudem erfuhr er die Grenzen teilnehmenden Beobachtens

von ANDREW JAMES JOHNSTON

„BUMM“, „Bim Bam“, „Piff Paff“ – diese Wörter klingen eher nach Comic als nach Wissenschaft. Und doch stammen sie aus einer soziologischen Studie, nämlich aus Loïc Wacquants Untersuchung über einen Boxclub in einem Chicagoer Schwarzenghetto. Um sich seinem Gegenstand zu nähern, wurde Wacquant selbst Boxer, unterzog sich jahrelangem, fast täglichem Training und nahm schließlich an Chicagos renommiertestem Amateurturnier teil, dem Golden Gloves.

Ursprünglich hatte der französische Bourdieu-Schüler über das Leben im Ghetto forschen wollen, doch es gelang ihm nicht, einen Zugang zu finden, über den er in das Leben der Schwarzen hätte eintauchen können. Da stieß er auf den Woodlawn Boys Club, und die Studie über das Ghetto wandelte sich zu einer Untersuchung über den Faustkampf im Ghetto.

So wurde der Forscher Subjekt und Objekt der Erkenntnis zugleich, denn indem er sich den harten Trainingsritualen unterzog und schließlich bei einem Wettkampf in den Ring stieg, erfuhr er die Sozialisation des Boxers am eigenen Leibe. Dies war auch sein methodisches Ziel, da er zeigen wollte, wie ein Habitus entsteht, wie sich eine soziale Identität in den Körper einschreibt. In immer gleichen, mühseligen Übungen disziplinierte er seinen Körper, lernte er Schmerzen auszuhalten und Askese zu üben, sowohl ernährungstechnisch als auch sexuell.

Er verinnerlichte die Bewegungsabläufe des Boxens, bis sie ihm buchstäblich in Fleisch und Blut übergingen. Vor allem aber machte er die rauschhafte Erfahrung des Kampfes, ob beim Sparring oder beim Turnier. Über weite Strecken verherrlicht Wacquant geradezu Training, Kampf und die egalitäre, maskuline Gemeinschaft der Boxer. Sein Gym ist eine Insel im Ghetto, eine eigene Welt. Ihr widmete sich Wacquant mit solchem Eifer, dass Bourdieu am Ende fürchtete, der Untersuchungsgegenstand hätte sich des Forschers bemächtigt und nicht umgekehrt.

Tatsächlich lässt uns Wacquant ausgiebig an seiner wachsenden Faszination für das Boxen teilhaben. Nach einer ethnografischen Darstellung des Boxclubs, seiner Rituale, Strukturen und Hierarchien, folgt die Beschreibung eines Profiboxturniers in einem Nachtclub. Während Wacquant dabei bereits weitgehend auf wissenschaftliche Distanz verzichtet, schildert er im dritten Teil des Buches reportagehaft seinen Auftritt bei den Golden Gloves. In der Tat erleben wir den Kampf als exstatischen Initiationsritus, über den Wacquant endlich vollständig in die Welt der Boxer aufgenommen und von den schwarzen Kämpfern als ihresgleichen anerkannt wird.

Aber gerade auf den dramatischen Höhepunkt folgt der Dämpfer. Wacquant verliert seinen fulminanten Kampf nur einer Fehlentscheidung wegen. Die Clubmitglieder feiern ihn gerade deshalb als Helden. Er wird gefragt, wann er seinen nächsten Kampf bestreiten werde. Da unterbricht DeeDee, der alte Trainer, und sagt zu Wacquant: „Es gibt kein nächstes Mal. Du hast deinen Kampf gehabt. Das reicht, um dein verdammtes Buch zu schreiben. Du brauchst nicht in den Ring zu steigen. Du nicht.“ So zerstört der Autor bewusst den Zauber der Boxwelt und gestattet es dem Trainer, ihn in seine Außenseiterposition zurückzustoßen, in die Position des privilegierten Weißen, der sich mit wissenschaftlichem Voyeurismus unter die schwarzen Athleten mischt.

Was als soziologische Studie über das Leben im schwarzen Ghetto begann, endet als romantische Elegie auf die Unmöglichkeit der Teilhabe, und damit auch auf die Grenzen des Körpers und der Körperlichkeit. Obwohl Wacquant sich schindet, seinen Körper der harten Disziplin des Boxers unterwirft und tatsächlich Boxer wird, bleiben die sozialen Barrieren erhalten. Wacquant schreibt das Boxen in seinen Körper ein, aber er kann nicht aus der Haut des Soziologen. So erweist sich das Ergebnis der höchst lesenswerten Studie als ambivalent. Mag der Körper auch wichtig sein bei der Ausbildung eines Habitus, mag soziale Identität auch mimetisch inkorporiert werden und im Körper ihren Ausdruck finden, bleibt dies dennoch ein gesellschaftlicher Prozess, gekoppelt nicht zuletzt auch an die eherne Macht ökonomischer Lebensbedingungen. Hätte uns der Trainer nicht an die soziale Realität erinnert, so wäre der Körper, von dem es so gern heißt, er könne nicht lügen, beinahe zur Quelle der Täuschung geworden.

Loïc Wacquant: „Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto“. Aus dem Französischen von Jörg Ohnacker, UVK (edition discours 35), Konstanz 2003, 294 Seiten, 24 Euro