Eine Eritreerin verklagt Italien: 23 Tage ohne Hilfe
Ihr Bruder und 71 weitere Eritreer starben als Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. 1.300 Angehörige der Toten brachte Gergishu Yohannes zusammen. Und verklagt Italien.
Eigentlich, sagt Gergishu Yohannes, sei das alles auch "eine Art Therapie" für sie selbst. Ein Weg, das zu verstehen, was ihr bislang unbegreiflich bleibt. Dafür flog die Eritreerin aus St. Augustin bei Bonn nach Sizilien. Sie legte dem Staatsanwalt in Agrigento Fotos von den Toten auf den Tisch. Und zeigte den italienischen Staat wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge in 72 Fällen an.
Der Bruder der Bürokommunikationskauffrau ist einer der Toten. Er starb im Alter von 20 Jahren bei einem Schiffsunglück, irgendwo zwischen Libyen und Italien. 23 Tage trieb das in Seenot geratene Boot auf dem Meer. Nach und nach töteten Hunger, Erschöpfung, und Dehydratation 72 der Insassen. Als das Rote Kreuz am 20. August 2009 die fünf Überlebenden in Empfang nahm, sahen diese "aus wie Skelette", sagte ein Helfer.
Viele glauben, dass die 72 Eritreer mutwillig dem Tod überlassen wurden. "Sie hätten gerettet werden können", glaubt Yohannes.
Am 28. Juli erfuhr sie, dass das Boot in Libyen abgelegt habe. Dann hörte sie nichts mehr. Nach einigen Tagen wurde Yohannes unruhig. Es gelang ihr, in Tripolis mit den Leuten zu telefonieren, die das Boot auf den Weg gebracht hatten. Es sei mit allen Passagieren "wohlauf in Malta gut angekommen", sagten die.
Keine Grenzen für Menschenrechte: das Mittelmeer wird zum Massengrab der namenlosen Flüchtlinge. Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres sind 1.674 Flüchtlinge im Kanal von Sizilien ertrunken. Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer verschärft sich und Europa schaut zu.
Mit dem Manifest für ein Europa der Humanität und Solidarität fordern jetzt zahlreiche Menschenrechtsorganisationen ein anderes Europa. Ein Europa, das wirklich für die Ideen der Humanität und Freiheit aller Menschen steht.
Machen Sie mit – unterzeichnen Sie das Manifest: bewegung.taz.de/manifest
Erstunterzeichner des Manifests: medico international, Pro Asyl, Amnesty International, Brot für die Welt, borderline-europe – menschenrechte ohne grenzen, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten, BUKO – Bundeskoordination Internationalismus, Afrique Europe Interact Netzwerk, MIGREUROP, Netzwerk MiRA – Migration Research and Action
Am 11. August versuchte sie es beim Malteser Hilfswerk, doch die sagten nur, sie hätten "nichts mit Malta zu tun", und verwiesen sie an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in München. Dem schickte Yohannes ein Fax mit den ersten sieben Namen der Vermissten.
Wochenlang telefonierte sie. Mit den Behörden in Italien, in Malta, mit Ordensleuten und Hilfsorganisationen, mit der UN und immer mehr Angehörigen der Insassen, die sie ausfindig machte. Sie drängte auf eine Suchaktion, auf Informationen. Yohannes wusste, dass es in der Region immer wieder zu dramatischen Schiffsunglücken mit Papierlosen kommt.
Am 20. August meldete die italienische Nachrichtenagentur Ansa ein "neues Flüchtlingsdrama auf See". Über 70 Leichen mussten die fünf Überlebenden über Bord werfen. Ein Hubschrauber der deutschen Bundespolizei, der für die EU-Grenzschutzagentur Frontex im Einsatz war, suchte das Gebiet ab. Die Piloten sichteten noch sieben der Leichen. Der italienische Innenminister ordnete eine "umgehende Untersuchung" an.
Schiffe fahren vorbei, ohne zu helfen
"Jeden Tag sind bis zu zehn Schiffe an ihnen vorbeigefahren", sagt Yohannes, das hätten die Überlebenden berichtet. Sie hätten geschrien und gewunken, doch alles war vergebens. "Keines hat geholfen." Später erfuhr sie, dass am 15. August sogar eine Patrouille der Küstenwache das zwölf Meter lange Boot entdeckt, mit Treibstoff und fünf Rettungswesten versorgt hatte. "Dann fuhren sie wieder ab und ließen uns trotz unseres Zustands zurück", sagte ein Überlebender. Es seien dabei "keine internationalen Verpflichtungen verletzt worden", sagte ein Offizier später dazu.
Yohannes sieht das anders.
Sie besuchte die Überlebenden im Krankenhaus und in einem Internierungslager auf Sizilien. Bis heute habe sie "Albträume" wegen dieses Orts, sagt sie. Sie reiste nach Eritrea und nach Sudan, besuchte die Familien der Opfer, die sie kannte, und forschte nach Namen von weiteren Insassen des Bootes. In monatelanger Kleinarbeit beschaffte sie in neun Ländern in Afrika und Europa 54 Vollmachten für ihre Klage in Agrigento.
Das kostete sie all ihre Ersparnisse, "aber es war das einzig Richtige". 1.317 Angehörige und Freunde der Toten aus der ganzen Welt brachte Yohannes bis heute in einer Interessengemeinschaft zusammen. "Uns verbinden der schreckliche, qualvolle Tod unserer Lieben und die Verpflichtung zu klären, warum sie nicht gerettet wurden", sagt sie. Im Juli 2010 und im Juni 2011 organisierte sie einen Gedenkgottesdienst in einer Frankfurter Kirche.
Vor fast dreißig Jahren kam die heute 47-Jährige selbst als Flüchtling über verschlungene Wege nach Deutschland. Sie hatte Glück: Schon nach drei Monaten wurde die unbegleitete Minderjährige als Flüchtling anerkannt. Sie lernte Deutsch, machte eine Ausbildung. Hier begegnete sie ihrem späteren Ehemann, auch er ein Flüchtling aus Eritrea, sie haben drei Kinder, die "alle das Gymnasium" besuchen. "Wir haben einen langen Kampf hinter uns, aber wir waren erfolgreich", sagt sie über das Leben ihrer Familie in Deutschland.
"So was macht mir Angst"
Immer wieder bekommt sie zu hören, dass die Flüchtlinge selbst schuld gewesen seien, weil sie das Boot betreten hätten. "So was macht mir Angst," sagt sie, denn es zeuge davon, "dass menschliche Gefühle fehlen". Ihr Bruder sei ein "brillanter Gitarrenspieler und ein mathematisches Genie" gewesen, sagt sie dann. So jemand, soll das wohl heißen, gehe nur bewusst ein solches Risiko ein, wenn ihm keine andere Wahl bleibe, "um in Frieden in einem demokratischen Land zu leben".
Zwei Jahre liegt ihre Klage schon bei der Staatsanwaltschaft in Italien. Es ist das erste Verfahren dieser Art in einem Land, in dem der einstige Reformminister Umberto Bossi im Jahr 2003 verlangen konnte, dass der Marine erlaubt sein müsse, auf Flüchtlingsboote zu schießen, wenn die nicht umkehren. Tausende Papierlose sind im Mittelmeer ertrunken, viele hätten wohl gerettet werden können, doch noch nie hat jemand in diesem Ausmaß versucht, einen Staat dafür haftbar zu machen, wie Gergishu Yohannes. Gehört hat sie bisher allerdings "absolut gar nichts" von der Justiz.
Es gehe ihr nicht um Schadenersatz oder Strafen. "Die sollen ihren Fehler zugeben und sagen, dass Menschenrechte auch für Schwarze gelten." Die Chancen dafür stehen vermutlich schlecht. Aufgeben will sie trotzdem nicht. "Nur so kann ich Abschied nehmen", sagt sie.
Am Montag, dem 10. Oktober, wird Gergishu Yohannes um 19 Uhr bei der Vorstellung des neuen taz-Buchs "Europa macht dicht" im Frankfurter Ökohaus über Flüchtlingspolitik sprechen.
Machen Sie mit – unterzeichnen Sie das Manifest: bewegung.taz.de/manifest
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour