: Ein zweiter Sarg für Tschernobyl
Reaktorruine in der Ukraine soll zweite Ummantelung erhalten, um Durchdringen der Radioaktivität zu verhindern / Vorsorgliche Evakuierungen von Kindern ■ Aus Wien Walter Oswalt
In Tschernobyl droht der Sarkophag, der die Umwelt vor dem strahlenden Reaktorwrack schützen soll, durch den ständigen radioaktiven Beschuß „undicht“ zu werden. Die Verhältnisse innerhalb des Sarkophags sind so instabil, daß von außen eingegriffen werden muß. Kinder aus der Umgebung von Tschernobyl sollen vier Jahre nach der Reaktorkatastrophe in Ferienheime weit weg vom Atomreaktor evakuiert werden. Auf Befürchtungen der Bevölkerung Kiews angesprochen, daß es erneut zu einem gefährlichen Austritt von Radioaktivität in Tschernobyl kommen könnte, antwortete gestern Nikolai P.Lawjorow, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR bei seinem Besuch in Wien: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß eine Extrastrahlung entstehen könnte, dies könnte nur in Folge einer Explosion erfolgen. Aber ich muß unterstreichen, daß es an einigen Kontruktionselementen des Reaktors tatsächlich Probleme gibt: An der Deckenkonstruktion müssen Arbeiten durchgeführt werden, damit die Sicherheit gewährleistet wird.“ Lawjorow ist stellvertretender Vorsitzender der Akademie der Wissenschaften und war als Vorsitzender des Staatskomitees für Wissenschaft und Technik letzte Woche wegen der Sanierungsarbeiten von Tschernobyl in Kiew. Er bestätigte, „daß die Bevölkerung befürchtet, daß einige Elemente der Konstruktion zusammenbrechen könnten“. Lawjorow vertraut indes den Experten, die „dies alles für ausgeschlossen halten.“ Zugleich machte Lawjorow deutlich, daß es notwendig sei, von außen in den hochverstrahlten Reaktor - durch die Ummantelung des Sarkophags hindurch - einzugreifen: „Ich muß noch unterstreichen, daß wir daran arbeiten, wie wir diese Elemente besser unterbringen sollen mitten im Sarkophag“, sagte Lawjorow.
Die Internationale Atomenergiebehörde in Wien zeigte sich über diese hochbrisanten Maßnahmen in Tschernobyl gestern nicht informiert. Der Pressesprecher der IAEO, Hans Friedrich Meyer, betonte, daß seine Behörde nicht mit den Verhältnissen im Reaktor beschäftigt sei. Gleichzeitig bestätigte Meyer aber Befürchtungen, der Sarkophag könnte die Strahlenbelastung von innen auf die Dauer nicht aushalten: „Es soll eine zweite Hülle gebaut werden.“ Auf die Frage, warum der bisher als strahlensicherer Bunker präsentierte Sarkophag selbst noch einmal eingebunkert werden soll, antwortete der IAEO-Vertreter: „Weil das damals sehr schnell gegangen ist und weil da sehr viel Strahlung ist. Wir müssen das dichter haben.“ Die Strahlung würde auf die Dauer den Beton durchdringen.
Meyer bestätigte einem Bericht der Kiewer Zeitung 'Wertscherni Kiew‘, wonach der Kiewer Stadtrat ein Achtpunkteprogramm verabschiedet hat. Der Bevölkerung wird empfohlen, ihre Kinder einen Monat länger als normal, bis zum Oktober, in Ferienheimen außerhalb von Kiew unterzubringen. „Die Sowjets schicken die Kinder länger in die Ferien - in Ferienheime weit weg von da. Ob das aus Strahlungsoder nur aus psychologischen Gründen gerechtfertigt ist, das können wir im Augenblick nicht sagen.“ Meyer ergänzte, daß diese Evakuierungen nichts besonderes seien. „Ich meine, es ist ja so in allen sozialistischen Ländern. Dort werden Kinder auch zu Heizzeiten oft evakuiert, wenn die Luft schlecht ist.“
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