■ Zum Verbot von Winfried Bonengels „Beruf Neonazi“: Ein wahrer Alptraum
„Sie versprechen dann vielleicht, von dem abstoßenden Charakter der zensurierten Traumwünsche abzusehen, und ziehen sich auf das Argument zurück, es sei doch unwahrscheinlich, daß man dem Bösen in der Konstitution des Menschen einen so breiten Raum zugestehen solle? ... Oder wissen Sie nicht, daß alle Übergriffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen, von wachen Menschen als Verbrechen wirklich begangen werden?“
Sigmund Freuds nicht nur rhetorische Frage aus den – 1917 veröffentlichten – „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“, in denen es um das Zulassen der aufsteigenden Bilder des Unbewußten ging, trifft präzise die Debatte um den kollektiven Alptraum von Winfried Bonengels „Beruf Neonazi“. Denn anders als das Vorurteil meint, fährt Freud nicht mit Überlegungen zur Sexualität, sondern zu Mord und Totschlag fort: „Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf den großen Krieg, der noch immer Europa verheert, denken Sie an das Ausmaß von Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kulturwelt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich, daß es einer Handvoll gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mitschuldig wären?“
Mehr als zwei Jahre nach Hoyerswerda, mehr als ein Jahr nach Rostock, ein Jahr nach Mölln, Monate nach Solingen, Jahre und Tage nach dem Historikerstreit und zuletzt der Einweihung der Neuen Wache in Berlin, nach mehr als 22 Toten und einer Grundgesetzänderung verweigert sich die deutsche Gesellschaft ihren Träumen. Die Große Koalition, sie existiert längst. Sie alle: von Innen- und Kultusministern, von politischen Parteien, Antifagruppen und Jüdischen Gemeinden bis zu Filmverleihern, Staatsanwälten, Gerichten und Bundesbahnverwaltung wollen mit Zensur und Staatspädagogik wegdrücken, was sie seit etwa acht Jahren mitgemacht oder geduldet haben. In Bitburg wurde die SS geehrt, im Historikerstreit die Argumente der Auschwitz-Leugner ehrbar gemacht, in Schinkels – nein, in Kohls – Neuer Wache zuletzt die Ermordeten der Shoah im Sammeldenkmal verunglimpft.
Bonengels Film „Beruf Neonazi“ zeigt mäßig distanziert, wie es aussieht, wenn all das geglaubt und zur Lebensform verdichtet wird. Er demonstriert, wohin der heute so beliebte innerdeutsche Diskurs von Opferbereitschaft und Verantwortung, von Entbehrung und Gemeinschaft, von Volk, Nation und Geschichte führt, wenn man ihn ernst nimmt: in den Tod. Weniger wie im Fall einer Karikatur, eher wie bei einer Röntgenaufnahme können wir bei Althans und seinen französischen Kameraden zudem beobachten, wo es endet, wenn man die kroatische oder serbische Sache zum Nennwert nimmt, wohin die Rede von der Vielfalt der Völker führt und wer sonst noch für Saddam Husseins Irak Sympathien hegt.
Jahrelang hat sich die demokratische Öffentlichkeit mit der Wiederholung von Arendts These zur „Banalität des Bösen“ eingerichtet – wird aber ein Gemütsmensch wie Ernst Zündel gezeigt, der in aller Behaglichkeit die Shoah leugnet, kommt die Zensur. Sich diesen Bildern zu verweigern, sagt mehr über die eigenen Zweifel mancher Zensoren am Holocaust aus als über ihre volkspädagogische Kompetenz. Vielleicht sollten die verschiedenen Zensoren endlich folgendes bedenken: Indem sie vor dem wahren Alptraum die Augen verschließen (lassen), eignen sie sich die Weltsicht sowohl der Autonomen als auch der Neonazis an. Während sie den Neonazis bestätigen, daß schon ihre Worte dazu geeignet sind, historische Wahrheit und öffentliche Sicherheit zu erschüttern, beglaubigen sie den Autonomen, daß die Demokratie in ihrer Schwäche ohne Verbote nicht mehr auskommen kann. Eine Öffentlichkeit, die beides einräumt, hat sich längst aufgegeben. Sie wird wissen, warum. Micha Brumlik
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