Ein unlösbarer Knoten

Verstört verfolgen Afghanen in Berlin die Kriegsvorbereitungen gegen ihr Herkunftsland. Der Kontakt in die Heimat ist abgerissen, die Stimmung gespannt. Ein Besuch im Afghanischen Kulturzentrum

Eine Tasse Tee, eine Möglichkeit zum Reden sollen Hoffnung spenden

von ANDREAS SPANNBAUER

Tereschkowa Obaid, die ihren Vornamen der ersten weiblichen Kosmonautin im All verdankt, muss in diesen Tagen viel Elend sehen. Immer wieder suchen Menschen in den zwei kleinen Räumen, in denen das „Afghanische Kommunikations- und Kulturzentrum“ im Norden von Berlin-Neukölln seinen Sitz hat, Trost bei der 25-Jährigen.

Hilflos und verzweifelt verfolgen die in Berlin lebenden Afghanen die weltpolitische Entwicklung. Viele, sagt Obaid, „kommen hier herein und weinen einfach los“. In solchen Fällen muss sie Zuversicht vermitteln, die sie nicht hat. Sie selbst schläft nicht gut, seit die USA ihrem Herkunftsland mit Krieg drohen. Die Gedanken sind bei den Angehörigen, die sie seit 14 Jahren nicht mehr gesehen hat.

Obaid kam mit ihrem Vater, einem Mitarbeiter der afghanischen Botschaft in der ehemaligen DDR, nach Berlin. Nach dem Fall der Mauer ging ihre Familie nach Westberlin und stellte einen Asylantrag. Inzwischen verfügt Tereschkowa Obaid über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, spricht fließend Deutsch, ist geschminkt und würde für ihre Kleidung in Kabul vor Gericht gestellt. Der Kontakt zu Freunden und Verwandten ist seit zwei Wochen abgerissen, die Telefonleitung tot.

Wie ihr geht es vielen der rund 800 in Berlin lebenden Afghanen, von denen viele psychisch am Ende sind. Eine Tasse Tee, eine Möglichkeit zum Reden sollen in solchen Momenten im Afghanischen Kulturzentrum Hoffnung spenden. Auf einem alten Fernseher, um den ein paar Sofas und Stühle herumstehen, werden die neuesten Nachrichten verfolgt. Ein Schachspiel, ein paar Trommeln erinnern an weniger bewegte Zeiten in den beiden Räumen. Nun klingelt ununterbrochen das Telefon.

Davon, dass das Unglück in Afghanistan auch schon vor dem 11. September grenzenlos war, zeugen die unzähligen Fotografien an der Wand. Eine von ihnen zeigt einen Strick, in der Farbe des Islam, an dem ein lebloser Körper baumelt. Bei der Hinrichtung durch die Taliban-Milizen riss der Strick drei Mal. Erst nach 21 Minuten war das Opfer tot. Das Bein eines Kindes endet kurz unter dem Knie. Schienbein, Fuß, Zehen sind verschwunden, weggefetzt von einer der unzähligen bunten Schmetterlingsminen, welche die Sowjetarmee während des Bürgerkriegs über afghanischen Dörfern abgeworfen hatte. Vielleicht helfen diese grausamen Bilder gegen das Heimweh.

In den letzten zehn Tagen ist das grenzenlose Unglück noch grenzenloser geworden. Nach zwanzig Jahren Bürgerkrieg und fünf Jahren Herrschaft der Taliban fürchtet die Bevölkerung nun den Angriff der USA. „Die Katastrophe hat schon vor dem Bombardement begonnen“, sagt Sabour Zamani. Der Diplompädagoge spricht von den zehntausenden Menschen, die aus dem fliehen, was der Bürgerkrieg von den Städten übrig gelassen hat. Viele von ihnen sind krank, hungrig, ohne Medikamente. „Schon deswegen werden viele sterben.“ Er selbst hat Afghanistan 1978 verlassen, weil er in Kabul – das damals noch kein Trümmerhaufen war – keinen Studienplatz bekommen hatte. Vor dreizehn Jahren gründete er in Neukölln das Afghanische Kultur- und Kommunikationszentrum. Er wollte einen Ort der Begegnung schaffen. Heute ist daraus längst ein Zentrum für alles geworden. Die Mitarbeiter bringen Flüchtlingen Deutsch bei, helfen, wenn deutsche Behörden die ihnen zustehenden Gelder zurückhalten, oder feiern das afghanische Neujahr, das so genannte Nauros-Fest. Miete, Gas, Strom und Büroausstattung werden von der Ausländerbeauftragten finanziert.

Von dem Attentat in New York erfuhr Zamani auf den Fernsehbildschirmen eines Kaufhauses. „Als ich die Bilder von den Flugzeugen sah, dachte ich nur an die Menschen dort“, erzählt er. Doch die Auswirkungen, die der Anschlag auf sein eigenes Leben haben sollte, wurden ihm schon wenig später deutlich vor Augen geführt. Zehn Minuten starrte er auf den Bildschirm, dann machte er sich auf den Weg ins Kulturzentrum. Und da standen plötzlich zwei Männer und eine Frau im Raum. Sie gaben sich als Polizei aus. Aggressiv hätten sie ihn immer wieder gefragt: „Bist du für Bin Laden oder gegen Bin Laden?“ Es gelang ihm, den unerwarteten Besuch zu beschwichtigen. Enttäuscht und still zogen die Eindringlinge ab. Als sie weg waren, rief Zamani verdutzt bei der Polizei an: Von den angeblichen Terrorismusfahndern wusste dort niemand. „Das waren wohl Verrückte hier aus der Gegend“, meint Zamani achselzuckend.

Einhellig überwiegt in der afghanischen Gemeinde in Berlin die Abscheu über das Attentat. Tereschkowa Obaid zeigt Verständnis für die Wut vieler Amerikaner, die sich nun in der geballten Wucht eines Militärschlages entladen soll. Gleichwohl zweifelt sie daran, dass ein Angriff auf Afghanistan zur Bekämpfung des Terrorismus beitragen wird: „Ich glaube kaum, dass die Verantwortlichen dort warten, um sich erwischen zu lassen.“ Zamani ärgert sich über die langjährige Unterstützung der USA für die Taliban-Milizen, vor deren Grausamkeit so viele Besucher des Zentrums fliehen mussten: „Damals hat das keinen interessiert.“ Viele Afghanen sind hin- und hergerissen: Ein Krieg wird viele Unschuldige das Leben kosten. Ein Fortbestand des Taliban-Regimes auch. „Alleine schaffen wir es nicht“, sagt Obaid unentschlossen.

Mit einem Schweigemarsch an der Gedächtniskirche wollen die Afghanen am Samstag der Opfer des Anschlags gedenken. Denn viele Deutsche sehen, gerade in diesen Tagen, in jedem Afghanen einen Taliban-Anhänger. Vor ein paar Tagen kam ein Anruf, eine Frau am anderen Ende der Leitung sagte: „Ich hoffe, die nächste Bombe fällt auf Afghanistan.“ Tereschkowa Obaid schwieg verstört, einen Moment. Bevor sie antworten konnte, hatte die Anruferin aufgelegt.

Es gab aber auch Signale der Hilfsbereitschaft. Eine Frau rief aus Konstanz an und versicherte ihre Solidarität. Ein junger Mann wollte einen Flüchtling aus Afghanistan zu sich nach Deutschland einladen. Sabour Zamani musste ihm sagen, dass dies unmöglich ist. Die bundesdeutschen Behörden verweigern allen Afghanen ohne Angabe von Gründen ein Visum für die Einreise. „Selbst Afghanen, die den deutschen Pass haben, dürfen nicht einmal Vater und Mutter zu sich einladen.“

Ein afghanisches Sprichwort sagt: „Man soll einen Knoten nicht mit den Zähnen lösen.“ Ein anderes: „Eine gegebene Ohrfeige ist besser als eine geliehene Süßigkeit.“ Abzuwenden, resigniert Tereschkowa Obaid, sei ein Angriff auf „die armen Menschen dort“ ohnehin nicht mehr.

Spendenkonto: Afghanisches Kommunikations- und Kulturzentrum Berlin, Postbank Berlin Konto-Nr. 0203979103 BLZ 100 100 10 Stichwort: „Hilfe für Afghanistan“