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Ein schmerzlicher, ein wunderbarer Film

■ 500 bei der Premiere des Bremer Films „Wir möchten noch viel lauter sein“ / Sexueller Mißbrauch aufgearbeitet

Dichtes Gedränge vor dem Kulturzentrum Schauburg am Sonntag nachmittag. Etliche Frauen, Mädchen, Männer werden wieder nach Hause geschickt, nur 500 finden Einlaß. Kein internationaler Kultfilm läuft an. Sondern ein 60minütiger Videofilm aus Bremen hat Premiere. Ehrenamtlich und gemeinschaftlich produziert von zwölf Mädchen und Frauen plus einem Kameramann. Der Titel: „Wir möchten noch viel lauter sein“. Der Untertitel verheißt Brisanz, keine Sensationen: „Wie Mädchen und Frauen ihre Erfahrung mit sexuellem Mißbrauch verarbeiten.“

Ein langsamer Film, ein bedächtiger Film läuft an. Zwei Mädchen und eine junge Frau erzählen. Jede für sich, nacheinander in der gleichen Ledersofa- Ecke sitzend. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen, nur die Umrisse ihrer Mähnen und Frisuren. Eine hebt ständig nervös ihre Schulter. Alle drei erzählen im Schutz der Anonymität von der Zeit ihrer Kindheit, wo der Vater, der Bruder, der Freund der Mutter „etwas“ mit ihnen „gemacht“ hat, „etwas“ von dem sie angenommen haben, es sei völlig „normal“, jeder Vater tue das mit seiner Tochter. Die sexuelle Ausbeutung der Mädchen währte über Jahre hinweg. Die Mädchen waren es, die den Mißbrauch beendeten.

Die Stärke des Films liegt darin, daß hier weder nachgestellte Klischee-Szenen eingeblendet werden (etwa von Vätern, die sich bedrohlich den Kinderbetten nähern), noch daß hier aus den Mädchen intime Details herausgefragt werden, die bei den ZuschauerInnen Gefühle des Ekels oder voyeuristische Gelüste hervorrufen könnten. Der Film ist leise, zurückhaltend — und schön. Es gibt 60 Minuten lang nur eine Wirklichkeit, und das sind die Erzählungen und Phantasiereisen der Mädchen. Statt nachgestellter Vaterszenen beschränken sich die Bremer ProduzentInnen auf authentisches Material: Einige wenige Ausschnitte aus Mädchen-Malereien werden eingeblendet. Die einkreisende Spirale, der schwarze Alptraumklecks. Das genügt.

Dann geht der Film weg von der „Tat“, hin zu dem, wie die Mädchen und die junge Frau drei Jahre nach den ersten Interviews leben. Die Filmgruppe war und ist auch eine Selbsthilfegruppe. Die Mädchen und Frauen geben sich über Jahre hinweg Halt. Drei Mädchen werden nun ein zweites Mal interviewt und diesmal mit einem Standbild aus dem ersten, drei Jahre zurückliegenden Interview konfrontiert.

Die drei Interviewten erkennen sich beinahe selbst nicht wieder in den dunklen Umrissen auf dem Bildschirm. Sie haben sich verändert. Es ist Sommer beim zweiten Interview. Zwei tragen bunte T-Shirts. Sie lassen am Hals ein Stück Haut unbedeckt. Sie zeigen der Kamera Hinterkopf und Nacken, aber noch kein Gesicht. Alle Schultern sind heile. Sie selbst suchen die Umgebung für das zweite Interview aus, die eine wählte ein schönes rotes Plüschkino, die andere zog es zu einer Wiese am Fluß.

In den zweiten Interviews erzählen die drei von den Zerstörungen, an denen sie noch immer leiden: Die Schwierigkeit, Vertrauen zu fassen. Die Schwierigkeit, mit der Mutter weiterzuleben. Die Schwierigkeit, den eigenen Körper als schön, anmutig und rein zu empfinden. Sich selbst respektieren zu können. Die Schwierigkeit, unbefangen sexuelle Lust zu empfinden. Die Schwierigkeit, den Mißbrauch nicht vergessen zu können. Eine wünscht sich sehnlichst, einmal drei Tage hintereinander nicht „daran“ denken zu müssen.

Der Film setzt auf Heilung, nicht auf Schrecken. Heilsam ist es, die Mädchen nach den drei Jahren — gewachsen, selbstbewußter — im Interview zu sehen. Heilsam sind auch die phantasievollen Improvisationen, die Bilder vom haltenden Gruppenleben, die zwischen die Interviews geschnitten sind. Immer wieder das Maskenspiel der Mädchen und Frauen, bis schließlich zwei zaghaft und couragiert zugleich die makellosen weißen Masken abnehmen. Dann die Sequenz, wo sie die schweren Koffer ihrer Kindheit ein altes Treppenhaus hinaufbugsieren. Oder die, wo sich Mädchen mit farbigen Seidentüchern schmücken. Es ist ein Film der schönen Bilder, nicht des Ästhetizismus, aber der Bilder, die von der Schmach des Mißbrauchs reinigen — auch im ZuschauerInnenraum. Barbara Debus

Weitere Vorführungen in Bremen, jeweils 20 Uhr: 23. Mai (Villa Ichon), 7. Juni (Frauenkulturhaus), 27. Juni (Angestelltenkammer). Der Film sowie eine Begleitbroschüre sind ab Juli 1991 erhältlich bei „Donna Vita“, Marion Mebes, Fachhandel und Verlag für Materialien gegen sexuellen Mißbrauch, Postfach 117, 1000 Berlin 61. Weitere Auskünfte über Rita Hähner, Isarstr. 70, 28 Bremen 1.

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