Ein paar ruhige Worte: Stille Nächte in Berlin
An Weihnachten hat Berlin tatsächlich eine "Stille Nacht". Denn viele Migranten fahren in diesen Tagen gerne heim zu den Eltern, in die alte Heimat. Und dann kommt - hoffentlich - der Schnee und sorgt für gedämpfte Ruhe.
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein jeder ging in seine Stadt. Und in Berlin kehrte eine große Stille ein.
"Stille Nacht, Heilige Nacht", ist eines der bekanntesten Weihnachtslieder. 1818 erstmals in Salzburg gesungen, ist es heute untrennbar mit dem Fest der Christen verbunden - selbst in einer lärmenden Großstadt wie Berlin.
Dabei ist die Stille keineswegs den Christen vorbehalten. In praktisch allen Religionen wird die Stille für Meditation, Gebet, Trauer und Besinnung genutzt. Die Abwesenheit von störenden Geräuschen steigert die Fähigkeit zur Konzentration - und letztlich natürlich auch das Wohlbefinden.
Die stille Nacht im säkularisierten Berlin aber geht noch einen Schritt weiter. Sie präsentiert sich überreligös allen Berlinern - sofern sie denn in der Stadt geblieben sind.
Denn zu keiner Zeit zeigt der Hauptstädter deutlicher sein wahres Gesicht: Er ist ein Migrant. Er selbst oder seine Vorfahren kamen aus allen Richtungen. Und so fährt er zum Fest in die Gegenrichtung. "Nach Hause", wie selbst Menschen sagen, die sich an 360 Tagen im Jahr als Berliner bezeichnen würden. Seine Alltagsstadt lässt der Berliner für ein paar Tage seiner Abwesenheit in Ruhe.
So gerät die Stadt über Weihnachten zum Raum der Stille. Nur wenige Autos brummen über die Straßen - dabei müsste man nicht einmal stundenlang nach Parkplätzen Ausschau halten. Denn es sind genug freie zu finden.
Das Tempo der Menschen lässt merklich nach. Nach dem lautstarken Trubel im vorweihnachtlichen Kaufrausch könnte der Kontrast wahrlich nicht größer sein.
Unübertroffen war dieser Effekt im Jahr 2000. Pünktlich zum Einbruch der Dunkelheit rieselten an Heiligabend die Flocken vom Himmel. Stundenlang. Bis eine mehrere Zentimeter dicke Schneeschicht die Stadt bedeckte und auch die letzten verbliebenen Weihnachtsgeräusche noch einmal dämpfte. Bis zum zweiten Weihnachstfeiertag blieb das vorherrschenden Geräusch das Knarzen dicker Schuhe im Schnee. Und man konnte schlafen in himmlischer Ruh.
Dann setzte Tauwetter ein. Der Zauber war vorbei. Auch die Festtagsflüchtlinge kehrten zurück. Sie fanden ihre Stadt vor wie immer - und kauften Knaller und Raketen für Silvester.
An diesem Weihnachten ist leider kaum mit Schnee zu rechnen. Die exquisite Stille aber wird wieder unüberhörbar sein.
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