: Ein offenes „Geheimnis“
■ Datenschutz-Skandal beim Finanzamt: Steuerunterlagen von über 1000 HamburgerInnen lagen offen auf der Straße Von Marco Carini
Sie wollten immer schon mal wissen, was Ihr Nachbar eigentlich verdient? Wieviel Steuern er bezahlt, ob er noch in der Kirche ist? Das Finanzamt Hamburg-Neustadt-St. Pauli bietet diesen Info-Service zum Nulltarif. Am Dienstag abend stellten MitarbeiterInnen des Amtes gleich kiloweise höchst geheime Steuerbelege an den Straßenrand: für die Sperrmüllabfuhr, die sich für Mittwoch früh angekündigt hatte. Lohnzettel flatterten im Wind, Steuerlisten quollen aus geöffneten Kartons. Dietmar Nadler, Mitarbeiter des Hamburger Datenschutzbeauftragten ist sicher: „Ein ganz klarer Verstoß gegen das Steuergeheimnis“.
Die behördlichen Dienstanweisungen schreiben bindend vor, daß nicht mehr gebrauchte Steuerbelege in einem speziellen Raum gesammelt und von einer Fachfirma für Aktenvernichtung entsorgt werden müssen. Im Finanzamt an der Langen Reihe 2 aber läuft das anders. Nicht nur ausgediente Büromöbel wurden am Dienstag auf die Straße gestellt – auf einem Karton fanden Passanten offenliegend gegen 17.30 Uhr einen dicken Stapel Steuerunterlagen.
In diesem befanden sich unter anderem Lohnzettel, Lohnsteuerbescheinigungen und Jahreseinkommensbescheinigungen aus den Jahren 1984 und 1985 – sämtliche Daten, Namen, Adressen sind nicht geschwärzt. Desweiteren: Namentliche Aufstellungen über ausstehende Steuererklärungen und die erstattete Kirchensteuer. Insgesamt finden sich auf den Finanzamtslisten personenbezogene Daten von weit über 1000 NeustädterInnen wieder.
Als die Beamten des Polizeireviers 11 kurz nach 21 Uhr von dem Steuerdaten-Open-Air unterrichtet wurden, schritten sie sofort ein und stellten die verbliebenen Unterlagen sicher. Die Kriminalpolizei ermittelt nun wegen des „Verdachts des Verstoßes nach dem Datenschutzgesetz“. Die MitarbeiterInnen des Finanzamtes, die den Sperrmüllabtransport organisiert haben, wurden bereits gestern vormittag von ihren Vorgesetzten zu den Vorfällen befragt. Doch sie alle streiten ab, die Geheim-Unterlagen auf die Straße gestellt zu haben.
„So etwas darf nicht passieren, doch wir wissen nicht, wie das geschehen konnte“, zeigt sich Bruno Dißars von der Oberfinanzdirektion Hamburg ratlos. Sollten die für den Datenskandal Verantwortlichen ermittelt werden, wird die Behörde gegen sie laut Dißars umgehend „disziplinarische und arbeitsrechtliche Maßnahmen einleiten“.
Das ganze Ausmaß der Aktenschluderei erfuhr die Oberfinanzdirektion allerdings erst von der taz. So war weder ihr noch der ermittelnden Polizei bis gestern bekannt, daß neben einigen Kirchensteuer-Erstattungslisten, Kontoauszügen und weiteren EDV-Ausdrucken sich auch stapelweise detaillierte Einkommensbescheinigungen und Lohnzettel von Einzelpersonen in dem Papierberg an der Langen Reihe befanden. Dißars: „Wenn das stimmt, hat dieser Fall eine ganz andere Dimension, als wir bislang gedacht haben“. Die Polizei aber habe solche Unterlagen seiner Kenntnis nach nicht sichergestellt.
Die einzig mögliche Erklärung: Diese Unterlagen, die der taz zum Teil vorliegen, wurden vermutlichvor Eintreffen der Polizei von neugierigen PassantInnen an sich genommen.
Auch der Hamburgische Datenschutzbeauftragte Hans-Hermann Schrader ist mittlerweile eingeschritten. „Weil hier ein klarer Verstoß gegen das Steuergeheimnis vorliegt“, so Schrader-Mitarbeiter Dietmar Nadler, habe man die Oberfinanzdirektion aufgefordert, umgehend einen offiziellen Bericht über die Vorgänge vorzulegen.
Sollte der Schuldige ermittelt und ihm ein Vorsatz nachgewiesen werden können, drohe diesem nach 355 des Strafgesetzbuches eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren. Doch auch ein fahrlässiges Verhalten sei kein Kavaliersdelikt. Nadler: „Ich gehe davon aus, daß disziplinarrechtliche Maßnahmen unumgänglich sind“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen