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Ein letzter Kuss im Stehn

„Jenseits von Mitte“, Teil 9 und Schluss: Gründe, nach Charlottenburg zu fahren. Vom Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) fahren Busse nach Minsk oder Petersburg. Hier wird an die Zukunft gedacht

von KIRSTEN KÜPPERS

Der Busbahnhof ist grau und billig. Billiger geht nicht: 238 Mark kostet es nach Tegernsee hin und zurück.

Noch preisgünstiger ist Weißrussland. Hin- und Rückfahrt nach Minsk kosten 180 Mark. Zum selben Preis ist die Route Berlin–Oslo–Berlin im Angebot. Nüchtern weisen die überdachten Busbahnsteige auf die Welt: Bahnsteig 1 nach Kühlungsborn, Bahnsteig 3 nach Warnemünde und Paris, Bahnsteig 23 nach Vilnius, Riga und Tallinn. Keine Großbildschirme, kein ICE-türkis, keine Zeppelin-Lounge. Der 70er-Jahre-Flachbau des Zentralen Omnibusbahnhofs (ZOB) im Westen Charlottenburgs ist angenehm funktional. Im Nieselregen reicht ein Fahrplan mit Zielen wie Bordeaux, Sofia oder St. Petersburg als moderne Perspektive. Denn am Busbahnhof wird an die Zukunft gedacht. Kühlschrankgroße Pakete reisen nach Kiew. Eine Mutter mit Goldzähnen wartet rauchend auf die Ankunft ihres Sohnes aus Novi Pazar. Ein kleines Alkoholikergrüppchen bringt den Kumpel zum Bus nach Hamburg.

Aber Busfahren dauert. Nach St. Petersburg etwa 52 Stunden. Der „Sportturis“-Bus über „Dresdena“ und „Nürnberga“ kommt erst morgen um 15 Uhr 30 in „Beograda“ an. Die Langeweile beginnt schon vor der Fahrt im Wartesaal. Die orangefarbenen Schalensitze sind zum Schlafen zu unbequem. Die Leute trinken Kaffee aus Plastikbechern. Eine junge Frau hat ein Sixpack neben sich stehen. Die Gemeinschaft in der Warteschleife starrt vor sich hin, dankbar für jedes neue Gesicht, das noch nicht auswendig gelernt ist.

Die beiden Abfertiger, die draußen in blauer Uniform auf ihren nächsten Einsatz zur Fahrkartenkontrolle warten, schätzen das Publikum an ihrem Arbeitsplatz. Wegen der Vorfreude in den Kinderaugen, dem nervösen Verstauen der Geschenke für die Verwandten und der Urlaubsstimmung, sagen sie. Genervt sind sie nur vom Fremdenverkehr zu den westlichen Heilbädern Bad Pyrmont oder Bad Salzuflen. „Die Rentnerinnen lassen die Sau raushängen“, meint einer. Sie seien streitsüchtig, drängelten beim Einsteigen und machten Probleme, wo es keine gibt. Ruhe ist am Busbahnhof nie.

Nur Zwischenzeit – bevor es wieder auf den Autobahnzubringer geht. Die galizischen Busfahrer Pablo und Benito steuern einmal pro Woche einen Bus voller portugiesischer Bauarbeiter von Lissabon über Paris nach Berlin. 45 Stunden und viele „Ducados“-Zigaretten dauert eine Fahrt. „Das mache ich schon immer“, sagt Pablo. Er kommt aus einer Lastwagenfahrerfamilie. In Berlin kennen die beiden Spanier nur den Busbahnhof, den Blick auf den gegenüberliegenden Funkturm und das Fernfahrerhotel, wo ansonsten die Kollegen aus Polen und dem ehemaligen Jugoslawien absteigen. „Tagesschau“-Namen wie Priština, Sarajevo, Split und Tuzla sind auch nur eine Busfahrt von Charlottenburg entfernt.

Der Doppeldeckerbus nach Hamburg fährt vor. Zukunftsfroh und laut verlangt der Trinker, dass die Stammgäste aus der Kneipe am Mierendorffplatz ihn auch im nächsten Sommer mit „Mensch Eddi, biste wieder in Berlin!“ begrüßen. Bevor er einsteigt, streicht ihm eine Freundin liebevoll über die Backe. Sie gibt ihm einen Kuss auf den Mund.

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