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Living in a box – Erster BriefEin leicht schummriges Gefühl

■ Keiner kann ihm helfen: Dietmar sitzt fest, im Keller seines Hauses. Umgeben von teurem Wein. Nur seine Briefe dringen nach außen

Lieber Jürgen!

Ich muss Dir leider für heute Nachmittag absagen. Obwohl dieser Brief Dich gar nicht erreichen wird. Naja, Du wirst wohl in der Club-Bar auf mich warten, vielleicht eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe Stunde, wirst Dir ein paar Martinis genehmigen, ab und zu auf Deine Rolex schauen (übrigens ein sehr schönes Modell – ich habe ja, wie Du weißt, das gleiche).

Du wirst dazu mit dem Kopf schütteln, innerlich mit mir schimpfen – hoffentlich nicht zu unflätig. Aber die Zeit wird Dir wohl nicht allzu lang werden; Du wirst mit Claudia hinter der Bar flirten und vielleicht gelingt es Dir ja heute einmal, sie zum Essen einzuladen.

Obwohl ich, um ehrlich zu sein, in dieser Hinsicht eher schwarz für Dich sehe. Sie versteht sich gut mit Deiner Frau und ich hatte immer den Eindruck, dass sie Deine Annäherungsversuche mit einem nachsichtigen Lächeln abgetan hat. Du bist dreißig Jahre zu alt für sie, und sie braucht Dein Geld nicht. Die kleine Webdesign-Firma ihres Freundes prosperiert gerade dramatisch, und es würde mich nicht wundern, wenn sie bald neben uns an der Bar säße, anstatt dahinter zu bedienen.

Nun, irgendwann wirst Du zu Deinem Handy greifen und mich anrufen. Vielleicht werde ich es leise klingeln hören, es liegt auf dem Küchentisch. Aber rangehen kann ich leider beim besten Willen nicht. Ich weiß auch schon ziemlich genau, was Du auf meine Mailbox sprechen wirst: „Hallo Dietmar, hier ist der Jürgen. Du, ich sitze jetzt schon seit einer halben Stunde hier in der Bar und warte auf dich. Hast du Angst zu verlieren? Wenn Du in zehn Minuten nicht da bist, spiele ich den Kurs ohne dich. Ciao.“ Vielleicht wirst Du noch einen Scherz darüber machen, dass Dein Handicap sich erhöht hat, weil du schon fünf Martinis getrunken hast. Ich freilich habe es hier mit einem ganz anderen Handicap zu tun.

Da ist mir wirklich eine saublöde Geschichte passiert. Wie Du ja weißt, habe ich Erika und die Kinder in diesem Jahr allein in Urlaub geschickt. Dringende geschäftliche Termine, habe ich gesagt, kein Aufschub möglich, tut mir Leid. Tatsächlich habe ich für diesen Monat alle Termine abgesagt. Ich habe die Arbeit gewissenhaft delegiert, vor allem an Rodewald, das ist ein fähiger Mann. Eine Chance für ihn, sich noch unentbehrlicher zu machen. Das Personal habe ich komplett in Urlaub geschickt. Kannst Du Dir das vorstellen, ich wollte für mich selbst kochen, ganz alleine. Seit ich neulich bei Biolek eingeladen war, bin ich wirklich auf den Geschmack gekommen. Ich habe ihm beim Kochen zugesehen, phantastisch. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn glatt heiraten würde; und er hat mich mit einem Blick angesehen, als ob er das ernst genommen hätte. Ich wollte kochen, die Rosen beschneiden, mit Dir Golf spielen, lesen, abends auf der Veranda sitzen und in aller Seelenruhe die Jahrgänge in meinem Weinkeller durchprobieren. Chronologisch. Ein Monat der Ruhe und des Friedens, ganz für mich alleine.

Nun, den habe ich jetzt. Und den Wein auch. Ich sitze hier nämlich im Keller. Ich hatte gerade den 49er Chateau Mérignac in der Hand – mein Geburtsjahr, was für ein Zufall – und überlegte, was ich dazu kochen könnte, als hinter mir die Tür ins Schloss fiel. Diese grüne feuerfeste Stahltür. Der Schlüssel steckt von außen. Mein Handy liegt auf dem Küchentisch. Und die Stahlgitter vor den Kellerluken sind mit Vorhängeschlössern gesichert, von denen ich noch nicht einmal weiß, ob die passenden Schlüssel noch existieren.

Oh ja, ich habe schon ausgiebig über diese Situation und meine eigene Schusseligkeit gelacht. Der Mérignac ist wirklich gut. Wir sollten mal eine Flasche zusammen trinken. Als ich heute Morgen in den Keller hinunterstieg, hatte ich noch fünfzehn Flaschen davon. Mittlerweile sind es noch dreizehn, und ich muss sagen, dass ich mich gerade leicht schummerig fühle.

Es prostet Dir zu

Dietmar

Tim Ingold

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