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Ein kritischer Spiegel für VertriebenenverbändeBeharren auf der Opferrolle

Kommentar von Andrej Reisin

Die Geschichtspolitik der Vertriebenenverbände: Der Gießener Politikwissenschaftler Samuel Salzborn erkundet in seinem Buch eine zerklüftete historische Landschaft.

Erika Steinbach (r), Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (bdv), und Bundeskanzlerin Angela Merkel (l) auf der 50 Jahr-Feier des bdv. Bild: ap

A m 30. September jährt sich zum 70. Mal die Unterzeichnung des Münchner Abkommens, mit dem 1938 die Tschechoslowakei als demokratischer Staat faktisch zerschlagen wurde und der Zweite Weltkrieg trotz der Appeasementpolitik gegenüber Nazi-Deutschland eingeläutet wurde. Anlässlich dieses Datums erscheint ein neuer Sammelband zur Geschichtspolitik der Vertriebenenverbände.

Der Bund der Vertriebenen (BdV) hat in den letzten Jahren beachtliche Erfolge gefeiert: Das unter der rot-grünen Bundesregierung lange Zeit abgelehnte "Zentrum gegen Vertreibungen" in der Mitte Berlins wird in der ein oder anderen Form Realität, "Flucht und Vertreibung" sollen in einigen CDU-regierten Bundesländern zu verpflichtenden Themen im Lehrplan werden, und die mediale Inszenierung von immer neuen Vertriebenenschicksalen ist in vollem Gange.

Der Gießener Politikwissenschaftler Samuel Salzborn hält dieser "Renaissance" der Vertriebenen auf der kulturellen, medialen und nicht zuletzt politischen Bühne seit Jahren einen kritischen Spiegel vor. In seinen Texten erkundet er eine zerklüftete historische Landschaft, die von konträren Erzählungen geprägt ist. Sein neues Buch enthält neun Aufsätze aus den Jahren 2002 bis 2006, mit einem Nachwort des tschechischen Historikers Jan Kren.

Die Themen reichen von der Analyse der Debatte um ein Vertriebenenzentrum bis hin zu Fallstudien wie der Biografie des Nestors der völkischen Wissenschaften, Hermann Raschhofer (1905-1979). Salzborns Augenmerk liegt dabei vor allem auf der Transformation der diskursiven Strategien der Vertriebenenverbände: Diese hätten sich seit 1989 von unerfüllbaren außenpolitischen Forderungen weg bewegt und ihren Fokus stattdessen auf Erinnerungspolitik gelegt. Das Ziel sei die ideelle wie materielle Anerkennung des eigenen Opferstatus und die Verankerung eines "Rechts auf die Heimat" im Internationalen Recht.

In einer Vielzahl von Zitaten belegt Salzborn die Maßlosigkeit der Selbststilisierung als Opfer - etwa wenn die BdV-Vorsitzende Erika Steinbach in einer ungeheuren Gleichsetzung den Zusammenhang zwischen Holocaust und Vertreibung im "entmenschten Rassenwahn hier wie dort" sieht, ohne den mörderischen Terror des "sudetendeutschen Volkstumskampfes", der in den Gaskammern der Nazis und in den Massakern von Lidice und anderen Orten kulminierte, auch nur zu erwähnen. Die Diskrepanz zwischen der Verdrängung der eigenen historischen Verantwortung und der umso vehementeren Tradierung der Opferrolle moniert Salzborn und spricht von einer "für die Vertriebenenposition charakteristischen Verdrehung der Geschichte", die er als "historische Entkontextualisierung" beschreibt.

Als Teil einer vormodernen Ideologie, die ihre Brisanz auch heute noch entfalten könne, bewertet der Autor die politischen Traditionen der Verbände: Diese reichten von der massenhaften Beteiligung ihrer Angehörigen an NS-Verbrechen über die personelle Kontinuität der Nachkriegsjahre bis hin zur Negierung der eigenen historischen Verantwortung. Daraus resultierten bis heute an völkischen Maßstäben ausgerichtete, rechtspolitische Forderungen.

Die tatsächliche Verankerung eines "Rechts auf die Heimat" etwa, mit definierten Siedlungsräumen für bestimmte "Ethnien", widerspräche nicht nur der Niederlassungsfreiheit in der EU, sondern wäre Salzborns Meinung nach eine fundamentale Infragestellung der globalen Migration und damit letztlich der multikulturellen Verfasstheit der modernen Gesellschaften Europas. Umso bemerkenswerter erscheint ihm die weitgehend erfolgreiche Inszenierung der Vertriebenenverbände als moderne Minderheitenvertreter.

Genau das sind die Verbände nach Salzborn nämlich nicht, solange sie sich auf bevölkerungspolitische Ideen berufen, die von der Konzeption des "Auslandsdeutschtums" im 19. Jahrhundert über die "völkischen Wissenschaften" des Nationalsozialismus bis hin zur Vorstellung eines ethnisch-separierten "Europas der Regionen" in heutiger Zeit reichen. Die historische Analyse dieser Konzepte bietet spannende Lektüre - selbst dann, wenn man die kritische Haltung des Autors nicht teilt.

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4 Kommentare

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  • S
    Soraya

    Dem vorherigen Kommentar kann ich nur teilweise zustimmen. Begriffe wie "Auslandsdeutschtum" gibt es wie die vorherigen Kommentatoren ebenso schrieben, in fast allen Ländern (Auslandspolen/-italiener, usw.), ideologisch muss dieser Begriff nicht zwangsmäßig gewertet werden. Auch ist es grob vereinfacht, zu sagen, dass die Vertriebenenverbände in der Tradition der diktatorischen Nazis stünden. Es gibt verschiedene Stimmen in diesen unterschiedlichen Verbänden, und auch sie haben sich verändert und weiter entwickelt. Das pauschale Ablehnen der Anliegen der Vertriebenen und dieser Verbände bedeutet vor allem eine einseitige Sichtweise und das Ignorieren von durchaus tragischen Ereignissen.

     

    Interssant ist durch die einseitige Darstellung dieser Verbände auch zu erfragen, in welcher Tradition diese (teils ideologisch bedingte) selektiv-negative Darstellung der heutigen Vertriebenenverbänden gründet?

     

    Empfehlen kann ich in diesem Zusammenhang die Arbeit der Pubilzistin Helga Hirsch. Link: http://www.bpb.de/publikationen/7GE5AG,0,0,Kollektive_Erinnerung_im_Wandel.html.

     

    Aber Vorsicht: Es benötigt Offenheit und weniger Vorurteile bzw. Verallgemeinerungen, um den Inhalt einer wirklich ausgewogenen Sichtweise zu verstehen.

  • P
    Philipp

    Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was meine Vorredner gegen diesen Artikel haben. Er befasst sich mit einem Buch und versucht eine knappe Inhaltsangabe bzw zu erklären worum es geht. Das amcht er meines Erachtens sehr gut, denn er geht auf die wesentlichen Aspekte und Themen des Buches gut ein. man kann sich natürlich über den Inhalt des Buches streiten - das hat aber nichts mit dem Artikel zu tun.

     

    Zum Begriff "Auslandsdeutschtum", lässt sich sagen, dass dieser Begriff im Rahmen einer völkisch ausgerichteten Ideologie im 19.Jahrhundert (und auch später) gebraucht wurde. Die Auslandsdeutschen holte Hitler ja später "heim ins Reich". Der ARtikel will damit aufzeigen in welcher ideologischen Tradition Salzborn diese Verbände stehen. Kein Mensch (auch nicht der Autor des Artikels) bestreitet indes, dass es Deutsche gibt, die im Ausland leben, das hat mit der Thematik auch gar nichts zu tun. Hier wurde wohl meines Erachtens etwas missverstanden.

     

    Was das ganze mit dem Kalten Krieg zu tun haben soll ist mir auch nicht ganz klar !

     

    Alles in allem finde ich eine gelungene Vorstellung eines bestimmt lesenswerten Buches.

  • A
    Alex

    Als Freund der TAZ, muss ich meinem Vorredner leider dennoch beipflichten – ich würde sogar noch weiter gehen: Der Artikel liest sich wie in der beleiernen Zeit des Kalten Krieges geschreiben. Einseitig, durchsichtig und miefig im Kontext. Schade, das thema wäre eine Kontroverse wert gewesen. Hier wurde sie nicht losgetreten, dann wird sie wohl wiederholt an anderer Stelle geführt werden. Weiter rechts. Selbst schuld.

  • MA
    M. Adnan

    Einseitig. Der Artikel ist bemerkenswert einseitig und tut zum Teil genau das, was er den Vertriebenenverbänden vorwirft: Entkontextualisierung. Wer das "Auslandsdeutschtum" (dieser Begriff wurde wohl mit Absicht gewählt), also deutsche Minderheiten im Ausland als "Unikum" beschreibt, kennt die Welt entweder nicht, oder er tut so als ob er sie nicht kennen würde. Was wahrscheinlicher ist, ist eine persönliche Einstellung von Doppelstandards. Wer jemals ein Lexikon geöffnet hat, gereist ist, oder überhaupt Weltluft geschnuppert hat, weiss: Es gibt Auslandsitaliener, in Osteuropa gibt es Pomaken, Türken, Auslandsgriechen, nicht-religiöse Juden, die engen Kontakt zu Israel pflegen, Auslandsarmenier, Polen in der Ukraine, Fulbe in Ostafrika, Aborigines in Australien, Irischstämmige in den USA, Uiguren in China, etzetera etzetera. Schlicht: Verschiedene Bevölkerungsgruppen/Minderheiten in einem Land sind ein normales/herkömmliches Phänomen. Und es gilt schlicht: Toleranz ist nicht auf gewisse Bevölkerungsgruppen beschränkt. Wer wirklich tolerant ist, der ist jedem Menschen und jeder Bevölkerungsgruppe offen gegenüber , und pflegt keine Stigmata, wie das im Artikel unterschwellig ersichtlich ist. Manchmal sollten sich gerade die, die mit Fingern zeigen überlegen wie es um ihre eigene Toleranz steht? Ob da nicht vielleicht bei Bedarf "Ausgeklammert" wird? Und vor allem, was für ein "Weltbild" sie vertreten? Wer über die Psychologie von Rassismus, Vorurteilen, Stigmata, und Selbstgerechtigkeit gelesen hat, weiss: diese Dinge beschränken sich nicht auf einzelne ethnische Gruppen, sondern es sind Probleme mit denen sich jeder Mensch befassen muss. Hinterfragen ist der erste Schritt zur Besserung, aber selektives Hinterfragen ist es nicht.