: Ein kleiner Uni-Streik in der Provinz
■ In Hildesheim wehren sich Studenten gegen Streichungen und Stellenabbau
Unter der Decke hängt ein Fallschirm, bei Räucherstäbchenduft und leisen meditativen Sphärenklängen räkeln sich junge Studenten in Schlafsäcken auf dem Boden des „Chill-out-rooms“. Sie erholen sich von den Strapazen der ersten drei Streikwochen. In der Universität im Südwesten Hildesheims mit ihren knapp 4.000 Studenten haben sich 400 AktivistInnen häuslich eingericht, die seit Wochen rund um die Uhr für das Überleben ihrer Uni kämpfen.
Gleich gegenüber dem Streikbüro hängt ein „Klausurkoordinationsbrett“. Es erlaubt einige wenige klausurvorbereitende Pflichtveranstaltungen, doch ansonsten wurden in den vergangenen Wochen keine regulären Seminare mehr abgehalten. Auch die Professoren erklärten kürzlich, wenn die Landesregierung an ihren Stellenstreichungen festhalte, dann solle der Landtag doch gleich die Auflösung der ganzen Universität beschließen.
„48-Stunden-Café“ steht über der Theke des Studentencafś, an der O-Saft und Kaffee zum Selbstkostenpreis ausgegeben werden. Die Wände über und über mit DIN-A-4-Plakaten und Flugblättern verschiedenster Farben beklebt. In der Ecke neben der kleinen Bühne ragt bedrohlich eine riesige schwarze Pappmachéfigur auf — mit blonden Haaren, einer Hand aus Draht und bluttriefenden Mund. So sehen sie die Wissenschaftsministerin: „Helga Schuchardt — die Frau mit der eisernen Hand“. Und Gerhard Schröder, der Ministerpräsident, wird zum „Totmacher von Hildesheim“.
48 – die magische Zahl des Studi-Streiks. 48 Dozentenstellen sollen in Hildesheim gestrichen und einer von vier Fachbereichen ersatzlos dichtgemacht werden. Ersatzlos entfallen sollen nach Schröders Willen die Informatik- und Wirtschaftsmathematikstudiengänge, und damit droht der Uni statt des versprochenen Ausbaus der Ruin.
„Wenn die 48 Stellen entfallen, ist anschließend auch unser Studiengang Informationsmanagement gefährdet, das Aufbaustudium Wirtschaftswissenschaften und auch unser Rechenzentrum“, sagt Nadja Sennewald, die als Streikkoordinatorin für die „externe Pressearbeit“ zuständig ist.
„Um zu zeigen, was Bildung wirklich sein kann“, haben die Streikenden kürzlich mit einem 48stündigen Vorlesungsmarathon die Hörsäle gefüllt. Das Themenspektrum reichte von Nietzsche über Jimi Hendrix und der antiken Mathematik bis zu Heiner Müller. „Da haben sich einige dann den Wecker auf drei Uhr gestellt, um pünktlich in der Uni zu sein“, sagt Nadja Sennewald. Auch das Wissenschaftsministerium in Hannover war in den letzten Wochen regelmäßig Ziel von Aktionen. Einmal konnten hundert Studenten in das Innere des Gebäudes gelangen.
Gerhard Schröder sah sich bei seinem letzten Auftritt vor der niedersächsischen Landespressekonferenz einem Dutzend Streikenden gegenüber. „Schröder hilf – Uni Hildesheim“ hieß es auf dem Plakat, vor dem er Platz nehmen mußte. Doch die kalte Art, wie er die Studenten abfertigte, ließ sie wütend werden.
Chancen für ihre Uni sieht Nadja nur noch wenige, aber stolz auf den Streik ist sie dennoch: „Begonnen hat alles mit einem Zukunftswochenende Anfang Januar, an dem 40 Leute teilgenommen haben. Auch die 40 haben anschließend nicht einfach zu Aktionen aufgerufen. Eine Woche lang haben wir uns zunächst einmal mit dem Hochschulstrukturkonzept des Landes auseinandergesetzt“, blickt Nadja auf die erste Streikwoche zurück. Nur weil die Inhalte vor den Aktionen kamen, haben schließlich die meisten mitgemacht.“
Obwohl auch in Hildesheim jetzt das Semester zu Ende ist, geht der Streik weiter. „Streik in den Semesterferien heißt für uns, daß in der vorlesungsfreien Zeit Seminare stattfinden werden mit Inhalten, wie wir sie wollen“, erklärt die angehende Kulturpädagogin die ausdauernde Hildesheimer Protestwelle.
Gestern ist in der kleinen Universität ein landesweit organisierter Studentenkongreß „Gegen Bildungsdeform und Kürzungswahn“ zu Ende gegangen. Die Organisatoren des Hildesheimer Streiks hoffen, daß sie im Sommersemester nicht mehr allein dastehen, daß es zu einem gemeinsamen Protest aller niedersächsischen Studenten kommt.
Schließlich hat der Landesfinanzminister kürzlich der Wissenschaftsministerin aufgegeben, den Etat 1997 noch einmal um 450 Millionen oder 12 Prozent des Gesamtvolumens zusammenzustreichen. Jürgen Voges
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