Ein illegales Dorf in Palästina: Leben in der C-Zone
Offiziell gibt es Jiftlik gar nicht, inoffiziell leben 5.000 Menschen hier in provisorischen Häusern. Das Dorf unterliegt israelischer Kontrolle und leidet an der Zersplitterung.
JIFTLIK taz | Das neue, zweistöckige Haus von Ahmad Abu Said thront auf der Kuppe eines Hügels. Von der Dachterrasse aus erstreckt sich der Blick über das fruchtbare Tal und die zu beiden Seiten dahinter aufragenden kahlen Berge. Wie satte grüne Matten liegen die Felder in der überschaubaren Ebene. Lauchzwiebeln, Auberginen, Sherrytomaten, auch Dattelpalmen, Kräuter und Blumen werden hier angebaut, dazwischen sind Weinreben unter glatt gespannten, weißen Plastikplanen ordentlich an einem Spalier aus Metallstangen und festem Draht aufgezogen. Um die verstreut liegenden Ansiedlungen herum bieten Eukalyptusbäume den Häusern und Gehöften etwas Schatten.
Abu Said ist Vorsitzender des Dorfrats und Mitglied des Agrarkomitees von Jiftlik, einer bereits seit 1986 bestehenden Nichtregierungsorganisation, die aus der palästinensischen Linken hervorgegangen ist. Das Dorf liegt im Jordantal, einer Gegend im Westjordanland, wo die Sommer sehr heiß und die Winter mild sind. Der Blick von der Terrasse suggeriert genügend Wasser für Menschen, Pflanzen und Tiere und ein Auskommen für die Familien.
Ohne Baugenehmigung
A-Zonen: Umfassen gemäß dem Osloer Ankommen von 1993 die palästinensischen Städte, deren Kontrolle der Autonomiebehörde obliegt.
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B-Zonen: Dörfer und ihre nähere Umgebung unterstehen der palästinensischen Zivilverwaltung, während Israel für Sicherheitsfragen zuständig ist. In den A- und B-Zonen leben etwa 95 Prozent der Bevölkerung des Westjordanlandes. Sie umfassen allerdings nur 40 Prozent des Gebiets.
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C-Zonen: Unterstehen ganz der israelischen Kontrolle. Sie machen 60 Prozent des Westjordanlandes aus. Im Jordantal sind es etwa 90 Prozent. (bs)
Jedenfalls solange man nicht zu genau hinschaut. Die meist einstöckigen Häuser unterhalb des Hügels haben mit Steinen beschwerte Wellblechdächer, die teils halboffenen Verschläge für Tiere und landwirtschaftliches Gerät wirken baufällig, und statt der üblichen Mäuerchen aus Feldsteinen grenzen mit Draht gespannte Zäune die kleinen Anwesen voneinander ab. Die großflächigen Weinplantagen mitten im Dorf gehören zu den nahe gelegenen landwirtschaftlichen israelischen Siedlungen Masua und Argaman, deren Häuser mit bloßem Auge zu erkennen sind. Neben den Rebenfeldern steht eine Metallbaracke, die palästinensischen Arbeitern, die von weiter her kommen, als Unterkunft dient. Auch Abu Said verdingt sich ab und zu bei den Siedlern und arbeitet auf deren Feldern. Die palästinensischen Arbeitskräfte werden aber seit einigen Jahren zunehmend von Migranten aus Thailand verdrängt.
Abu Saids neues Haus wurde wie fast alles, was in Jiftlik seit Eroberung des Westjordanlandes im Jahr 1967 gebaut wurde, ohne Genehmigung errichtet. "Es kommt immer mal wieder vor, dass nachts israelische Soldaten anrücken, alle aufwecken und kontrollieren, wer da ist, und die Ausweise prüfen," sagt der Aktivist, "das letzte Mal vor etwa drei Monaten." Weil manche das Risiko eines Abrisses nicht eingehen wollen oder nicht genug Geld für einen Neubau haben, leben einige Einwohner von Jiftlik in rechteckigen, mit Sackleinen und schwarzen Planen bedeckten Zelten, wie sie auch die Beduinen der Region haben. Die Überreste von Lehmhäusern, die vor einigen Jahren abgerissen wurden, sind noch zu sehen – und, so wird berichtet, es habe auch schon Abrissbefehle für Zelte gegeben.
Das zersiedelte Dorf, das über fünf Flecken verstreut ist und rund 5.000 Einwohner hat, liegt seit dem Osloer Abkommen, das 1993 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO geschlossen wurde, in einer sogenannten C-Zone. Ein Gebiet, das vollständig von Israel kontrolliert wird. Etwa 90 Prozent des Jordantals – "palästinensisches Tal", korrigiert Abu Said und stellt damit die integrale Zugehörigkeit zum Westjordanland klar – gehören zu diesen C-Zonen. Wegen der Nähe zur jordanischen Grenze ist die Region aus israelischer Sicht von besonderer strategischer Bedeutung.
Illegales Dorf
Hinzu kommt, dass Jiftlik offiziell gar nicht existiert. Es ist eines der nicht registrierten Dörfer, wie es sie auch im arabischen Norden Israels oder im Süden des Landes bei den Beduinen gibt. Hier muss jede Infrastrukturmaßnahme, jede Strom- und Wasserleitung, der Ausbau von Straßen, die "Einfuhr" von landwirtschaftlichem Gerät und eben auch der Bau von Häusern bei der israelischen Verwaltung beantragt werden. Genehmigungen gibt es jedoch kaum.
Große Probleme gibt es beim "Import" von Pestiziden oder Metallstangen für die Gewächshäuser - "ein Deaster," sagt Mohammed Njoum, der ebenfalls Mitglied des Agrarkomitees ist. Genehmigt würden nur Rohre, die einen Durchmesser von fünf bis siebeneinhalb Zentimeter haben. Und die seien für die Konstruktion zu schwach. Sonst könnten daraus Bomben gebastelt werden, erklärt er den israelischen Vorbehalt. "Es gibt keine Berichte über Raketen im Jordantal", beteuert Njoum. In der Tat gilt die Region als ruhig, selbst während der beiden palästinensischen Intifadas. Von Ausnahmen abgesehen. Im März 2009 starben zwei Israelis in ihrem Auto nahe Masua, nachdem ihr Fahrzeug beschossen wurde.
Doch inzwischen gibt es einen israelischen "Masterplan" für Jiftlik. Dieser sieht vor, dass drei der fünf Ansiedlungen "legalisiert" werden. Damit können Baugenehmigungen erteilt werden - in drei Fällen ist das auch geschehen - , Stromkabel verlegt und die Wasserleitungen repariert werden. Rund 2.000 Menschen jedoch bleiben außen vor.
Aber auch für die anderen wird es eng. Das zeigt sich bei der Einfahrt in den Ort. Links der Straße liegen die Felder, rechts stehen Häuser, und direkt dahinter, am Rand der Berge, beginnt die militärische Sperrzone. "Das ist nicht wirklich ein Fortschritt, hier zwischen der Straße und den Bergen etwa 70 Meter zu bebauen," kommentiert Njoun.
Und die Felder sind auch nur so lange grün, wie sie bewässert werden. Sonst holt sich die Wüste das Terrain zurück. Die Menge das Wassers aus den unterirdischen Reservoirs, das die Palästinenser nutzen dürfen, wird von Israel kontrolliert, ebenso wie der Bau von Brunnen oder das Anlegen von Zisternen. Und angesichts der maroden Leitungen geht etwa ein Drittel unterwegs verloren. Daher finanziert die deutsche Hilfsorganisation medico international mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes in Zusammenarbeit mit dem Agrarkomitee die Verlegung neuer Leitungen aus Plastik sowie den Bau von Gewächshäusern und Ställen für die Tiere.
Es ist ein prekäres Leben in Jiftlik, das einem Mikrokosmos der zunehmenden Fragmentisierung der palästinensischen Gebiete im Westjordanland gleicht. Verfügte das Dorf vor 1967 noch über rund 20.000 Hektar Land, sind es jetzt nur noch 13.000. Aus palästinensischer Sicht schrumpft nicht nur die Ausdehnung des Ortes, sondern zielt die israelische Politik auch auf eine Vertreibung der Bevölkerung ab. "Die Leute sollen denken, dass es besser ist, in Ramallah zu leben, wo es täglich Strom und Wasser und Arbeit gibt", sagt Njoun. Junge Leute müssten zur Ausbildung in die Städte ziehen. Einige wollten dort bleiben, andere Familien seien weggezogen. Doch angesichts der hohen Geburtenrate von sieben bis acht Kindern falle das kaum ins Gewicht. Seine Familie umfasse zehn Personen, die von Abu Said dreizehn.
Von der PLO vergessen
Njoum ärgert sich darüber, dass die PLO bei den Osloer Verhandlungen nicht verhindert hat, dass Jiftlik in einer C-Zone liegt und nicht etwa ein registriertes Dorf in einer B-Zone ist. "Die PLO hat das vergessen", beklagt er.
Xavier Abu Eid, seit zwei Jahren Berater der PLO bei Verhandlungen mit Israel, sieht das etwas anders. "Die C-Zonen stehen ganz oben auf unserer Agenda", sagt er in seinem Büro in Ramallah, wobei er betont, dass er nicht Mitglied in einer palästinensischen Partei ist. Der palästinensische Regierungschef in Ramallah, Salam Fayyad, weihe in dieser Region mehr Gebäude ein als jeder andere Politiker. Auch eine Zwischenlösung für Orte wie Jiftlik bis zu einem Friedensabkommen mit Israel kann Abu Eid sich vorstellen. Trotzdem: Hat die PLO Jiftlik bei den Osloer Verhandlungen vergessen? "Damals hatten wir die Perspektive, dass wir in fünf Jahren einen Staat haben", sagt er. Das ist jetzt 17 Jahre her. So müssen Menschen wie Abu Said heute noch fürchten, dass eine Abrissorder gegen ihr neues Haus erteilt wird.
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