Ein heiliger Krieger in der ARD: Der Konvertit im Kinderzimmer
Mit dem Thriller "Der verlorene Sohn" hält der radikale Islam Einzug ins deutsche Reihenhaus. Doch ein Dialog der Kulturen ist ausgeschlossen.
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"Bist du immer noch auf dem Trip mit deinem Dschihad-Scheiß?" - eine salopp formulierte, aber berechtigte Frage, die der Teenager Markus seinem etwas älteren Bruder Rainer stellt. Schließlich saß Rainer wegen des Verdachts auf Unterstützung einer islamistischen Terrorgruppe zwei Jahre lang in einem israelischen Gefängnis und wurde erst vor wenigen Tagen nach Deutschland abgeschoben. Jetzt lebt der Konvertit wieder in seinem alten Zimmer, unter einem Reihenhausdach mit seinem weltlich orientierten Bruder und seiner verunsicherten Mutter. Ist Rainer - wie der Verfassungsschutz vermutet - ein Schläfer oder - wie er behauptet - ein friedfertiger Muslim, der dem Terror abgeschworen hat? Diese Frage steht im Zentrum des Films "Der verlorene Sohn".
Sie wird aber jetzt noch nicht beantwortet, denn das Wissen um die Auflösung würde vieles von dem kaputt machen, was diesen außergewöhnlichen 90-Minüter auszeichnet. Gekonnt spielt der "leise Thriller" (Regisseurin Nina Grosse) nämlich mit Vorurteilen und möglicherweise allzu voreiligen Schlussfolgerungen der Zuschauer und bietet widersprüchliche Hinweise auf Rainers innere Verfasstheit und seine Absichten. Wie der 26-jährige Kostja Ullmann diesen verhärteten, undurchschaubaren Rainer spielt, ist beeindruckend - vor allem, weil dem Hamburger ja trotz einiger guter Rollen in Qualitätsfilmen ein allzu luftig-leichtes Sonnyboy-Image anhaftet (wer nie in Gala oder Bunte blättert, dürfte davon allerdings eh nichts wissen).
Der Fokus der Geschichte liegt auf Rainers Mutter Stefanie Schröder, die von Katja Flint überzeugend gespielt wird. Zwar ist auch sie erschrocken über ihren abweisenden Sohn, dennoch ist sie bereit, alles zu tun, um Normalität herzustellen und ihm eine Reintegration in die Gesellschaft zu ermöglichen. Sie besorgt ihm einen Job und versucht, so gut es geht, Verständnis für Rainer aufzubringen - bis hin zur Selbsterniedrigung. Durch ihr unermüdliches Engagement wird schließlich auch die offene Observation Rainers durch den Staatsschutz beendet. Eine fatale Entscheidung. Oder doch nicht?
"Die Mutter steht stellvertretend für uns alle, die wir hilflos sind und nicht mal im Ansatz begreifen, warum sich junge Menschen hierzulande dem radikalen Islam zuwenden", sagt Grimme-Preisträger Fred Breinersdorfer, der mit seiner Tochter Léonie-Claire das Drehbuch geschrieben und den Film zusammen mit Oliver Berben produziert hat. "Wir kommen an diese Leute überhaupt nicht heran, und dieses Problem sollte auch eines der Kernthemen des Filmes sein. Deshalb liefern wir auch keine Erklärung dafür, warum Rainer sich als Teenager zu einem gefährlichen Islamisten entwickelt hat. Das hätte der Geschichte einen rationalen Charakter gegeben, den es für Betroffene in der Realität so nicht gibt - und es hätte der Figur das Geheimnisvolle genommen."
Breinersdorfer legt Wert drauf, ein wirklichkeitsnaher Erzähler zu sein. Mit unter Terrorismusverdacht stehenden Islamisten hat er während der Recherche nicht gesprochen, aber viel Unterstützung von anderer, unerwarteter Stelle bekommen: Beim baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz sei man zwar erst skeptisch gewesen, hatte dem Filmemacher dann aber doch ausführlich Rede und Antwort gestanden. "Natürlich haben sie uns nicht in jedes Detail ihrer Arbeit eingeweiht, aber die Mitarbeiter waren uns gegenüber erstaunlich offen", sagt Breinersdorfer. "Wir können mit Gewissheit sagen, dass unser Drehbuch Fälle aufgreift, wie sie in den Abwehrszenarien deutscher Behörden durchgespielt werden."
Was in diesem Fall bedeutet: Schläfer passen sich an, und Rainer Schröder ist für die Behörden gerade deshalb verdächtig, weil er nichts richtig schlimm Verdächtiges tut. Eine vertrackte Situation: für den Staatsschutz -und für die Zuschauer.
"Der verloren Sohn", Mi. 23.2., 20.15 Uhr, ARD
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