■ Ein gerichtliches Schnellverfahren und sein gerechtes Urteil: Wo die Freundschaft endet
Es gibt diese Freunde, denen man immer wieder noch eine letzte Chance gibt. Sie haben viele Verbrechen begangen. Sie sind zum Doppelkopfabend nicht erschienen und haben sich zwei Stunden verspätet, als sie zum Schmorhuhnessen eingeladen waren. Anderen hätte man gesagt: „Geh in die Wüste, ziehe keine 4.000 Mark ein, und laß dich nie mehr blicken.“ Diese speziellen Kumpanen aber blicken einen an wie ein Dackel, den man beim Zerfetzen der Lederpantoffeln erwischt, und schwupps: Schon hat man ihnen eine umfassende Absolution erteilt.
Entsprechend wohlgesonnen bin ich, als Don Bernardo mal wieder anruft, um einen Termin für einen Kneipenabend auszumachen. Versteht sich, daß er laut Terminkalender wie üblich bis zum April 2017 ausgebucht ist, doch glücklicherweise sei gerade eben die für den nächsten Donnerstag anberaumte Vorstandssitzung des Fördervereins für avantgardistische Tonkunst abgesagt worden, da der erste Vorsitzende aufgrund einer Meinungsverschiedenheit mit der Steuerfahndung zu einer plötzlichen Auslandsreise habe aufbrechen müssen. „Na wunderbar“, sage ich, „neun Uhr?“ „Neun Uhr!“ bestätigt Don Bernardo: „Ich schreib's gleich auf.“ Nichtsdestoweniger sitze ich an dem besagten Donnerstag um zwanzig nach neun zwar schon vorm zweiten Bier, aber noch immer alleine am Tisch.
Natürlich ist die Pünktlichkeit eine mindestens kryptofaschistische Tugend. Trotzdem aber meldet sich in mir die Stimme des gerechten Zorns. „Du solltest“, zischt sie mir zu, „eine Standpauke ausarbeiten, die vor verbalen Kinnhaken nur so brummt.“
„Na na“, sage ich beschwichtigend, doch leider fährt mir im selben Augenblick Rüdiger in die Parade, der auf der Suche nach einem launigen Gefährten soeben durch die Schwingtür hereinkommt. „Dreißig Minuten!“ grinst er nach der Schilderung des Sachverhalts und einem Blick auf die Uhr: „Da ich, euer Ehren, der Auffassung bin, daß damit der Straftatbestand der gemeinen Freundschaftsverhöhnung gegeben ist und ferner der Angeklagte ein notorischer Serientäter ist, plädiere ich für eine drakonische Strafe.“
Vorerst jedoch stimmt die Unnachsichtigkeit des Staatsanwaltes Rüdiger mich eher milde. „Braucht Freundschaft nicht auch Großmut?“ philosophiere ich und bestelle dem Hohen Gericht ein neues Bier: „Kann es außerdem nicht sein, daß er gerade einem ertrinkenden Kätzchen das junge Leben rettet?“
Keine Viertelstunde später indes ist der Großmütigkeit des Vorsitzenden Richters die Puste ausgegangen, und das liegt daran, daß Don Bernardos Mitbewohner Berthold draußen vorbeiflaniert, vom Gerichtsdiener Rüdiger hereingewunken und in den Zeugenstand geführt wird, wo er bekennt, mit dem Beschuldigten weder verwandt noch verschwägert zu sein, aber sehr genau zu wissen, daß dieser für ein verlängertes Wochenende nach Frankfurt gefahren sei. „Keine weiteren Fragen!“ sagt Staatsanwalt Rüdiger triumphierend, weshalb ich den Zeugen entlasse und die Beweisaufnahme für abgeschlossen erkläre.
„Ein klarer Fall“, seufze ich betroffen, halte es aber trotzdem für geboten, noch einen halben Liter Bier lang über das Urteil zu meditieren, ehe ich den Gerichtsschreiber Rüdiger festzuhalten bitte, daß der Angeklagte wegen des wiederholten Versetzens guter Freunde zu sieben Monaten Mißachtung ohne Bewährung verdonnert wird und überdies die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, welche sich nach der Auskunft der Bedienung auf den Gegenwert von dreizehn Gläsern Bier belaufen und binnen vierzehn Tagen auf das Konto der Gerichtskasse zu überweisen sind. Joachim Schulz
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