Ein geflohener Syrer erzählt: „Das Schlimme überrascht mich nicht“

Seit zwei Jahren lebt Refa’at Yussef in Berlin. Am 4. April erfuhr er, dass 19 Verwandte beim Giftgasangriff in Chan Scheichun starben. Ein Protokoll.

Ein Weißhelm trägt ein beim Giftgasangriff verletztes Kind

In Chan Scheichun wurden beim Giftgas-Anschlag viele Kinder getötet oder verletzt Foto: Syria Civil Defence/ ZUMA Wire/ dpa

Kaum aufgewacht, schaue ich Nachrichten. Alle Syrer und Syrerinnen, die im Exil leben wie ich, machen das morgens als Erstes. Statt Kaffee Informationen. Ist etwas passiert in Syrien? Was genau? Wo? Wer? Ich schlucke mit trockenem Mund.

Wie jeden Tag mache ich auch am 4. April um 7 Uhr Facebook auf. Schreckliche Fotos von toten Kindern, ihre Augen weit aufgerissen, laufen über den Bildschirm. Darunter steht: Giftgasangriff in Chan Scheichun. Es ist eine Stadt in der Provinz Idlib, nicht weit von Aleppo. Ich erstarre, kann nicht weiterschauen, stelle das Handy aus, gehe ins Bad, dusche.

Wasser läuft über meinen Körper und ich weiß heute, zwei Tage später, nicht mehr, ob es warm oder kalt war. Ich wollte nicht denken, nicht fühlen. Vor dem Krieg wohnten 100.000 Leute in Chan Scheichun, wo ich geboren wurde. Jetzt mit Krieg und Vertreibung leben dort vielleicht 30.000 Menschen, vom Krieg dorthin Geflüchtete ­mitgezählt.

Und bevor ich es weiß, fühle ich es doch: Teile meiner Familie sind unter den Opfern. Wie in Trance trockne ich mich ab, wickle das Handtuch um mich, koche Kaffee, versuche, etwas zu essen. Zögernd, als wolle ich eigentlich nicht, muss aber, muss, stelle ich mein Handy an und lese die Nachrichten.

Niemand antwortet

Es heißt, der Chemiewaffenangriff habe in der Nähe der öffentlichen Bäckerei in Chan Scheichun stattgefunden. Die Bäckerei ist in der Gegend, wo meine Familie wohnt. Jetzt war ich mir ganz sicher: Familienmitglieder von mir sind betroffen, sind tot oder verletzt. Wie ein Verrückter versuche ich, meine Familie in Syrien zu erreichen, per Telefon, per SMS – niemand nimmt ab, niemand antwortet. Ich war wie erstarrt, aber mein Körper zitterte. Automatisch zog ich mich an, nahm meinen Rucksack, ging zur Schule, zum Deutschunterricht.

Eine Stunde später rief meine Mutter an, ich erwartete das Schlimmste. Sie hustet stark, ich warte, bis sie wieder sprechen kann. Endlich sagt sie, es gehe ihr gut. Dann hustet sie wieder und legt auf.

28, wurde in Chan Scheichun in Syrien geboren und flüchtete im November 2015 nach Berlin. Seither wartet er darauf, dass seinem Antrag auf Asyl stattgegeben wird, und lernt Deutsch. In Syrien arbeitete er beim Wachschutz

Ihre Stimme reichte: Jetzt war ich mir sicher, es war ein Chemiewaffenangriff mit Saringas – wie es auf Facebook stand. Ich dachte: Sie kapiert nicht, wie gefährlich das ist. Ich stelle mir vor, wie sie nach dem Telefongespräch stirbt und dass es das letzte Mal war, dass ich sie gehört habe. Ich rief wieder an, aber niemand nahm ab. Eine halbe Stunde später rief meine Schwester an, die in der Nähe meiner Mutter wohnt, und sagte, dass meine Familie lebt. Ich fühlte mich erleichtert. Aber nicht lange.

Um 10 Uhr schickte mir dieselbe Schwester, die mich kurz zuvor angerufen hatte, eine Liste mit neun Namen von Cousins und Cousinen. Alle waren bei dem Giftgasangriff gestorben. Mit diesen neun Menschen habe ich zuletzt in einem kleinen Unterschlupf während des Krieges gelebt, vor allem in der Zeit, als Chan Scheichun belagert und bereits von russischen Bombern angegriffen wurde. Ich habe die Stadt 2015 verlassen, aber meine letzten Erinnerungen an Syrien gelten diesen Menschen dort. Die Cousins und Cousinen waren wie Freunde, wie Brüder und Schwestern, wie meine Familie.

Neunzehn geliebte Menschen an einem Tag

Ich erstarrte innerlich, hatte keine Gefühle, schaffte es nur, meine Lehrerin zu bitten, aus dem Klassenzimmer gehen zu dürfen, lief planlos durch die Straßen und bekam eine weitere SMS mit weiteren zehn Namen von Verwandten, die bei dem Giftgasangriff starben.

Man kann es einfach so sagen: Ich bin diese Person, die neunzehn geliebte Menschen an einem Tag verlor. Ich habe mit ihnen gelebt, mit ihnen zusammen gegessen, mit ihnen zusammen in Syrien für Freiheit gekämpft. Ich habe sie, seit ich in Deutschland bin, jeden Tag angerufen. Sie waren meine Familie. Jetzt sind sie tot.

Heute wird nicht mehr so viel und so oft aus und über Syrien berichtet. Wahrscheinlich weil es seit 2011 immer die gleichen Nachrichten sind über Tote, Vertriebene, Flüchtende, über Fassbomben, Luftangriffe, Terror. Der Giftgasangriff in Chan Scheichun war ja auch nicht der erste. Der erste war am 21. August 2013 in Gouta, im Umland von Damaskus.

Wahrscheinlich langweilen die Nachrichten aus Syrien die Menschen in Europa mittlerweile. Nach sechs Jahren Krieg geht es den Journalisten, die darüber berichten, wie den Syrern und Syrerinnen: Tod und Sterben sind alltäglich geworden. Ich verlor meinen älteren Bruder im Jahr 2014. Er starb in einem Gefängnis des Regimes. Ich erinnere mich an meine Traurigkeit. Damals konnte ich noch weinen. Und heute: Ich bin innerlich leblos. Das Schlimme überrascht mich nicht mehr, ich erwarte es jeden Tag.

Andererseits: Die regimetreuen Medien überraschen mich dann doch, weil sie so dumm und verblödet über die Verbrechen des Regimes berichten. Zum Beispiel wurde verlautbart, Moskau habe zugegeben, es habe die Befreiungsarmee in Syrien bombardiert, dabei aber Orte getroffen, in denen die syrische Opposition das Giftgas gelagert habe. So sei es zu dem Unglück gekommen. Wenn das stimmen würde, warum ließen sie es dann zu, dass Soldaten der syrischen Befreiungsarmee letztes Jahr friedlich aus der Umgebung von Damaskus nach Idlib gingen?

Falschmeldungen hat das Regime seit dem Beginn der Revolution im März 2011 in Umlauf gebracht, als Addounia TV, ein Privatsender, die Demons­tra­tionen in Damaskus als Freudenfeiern bezeichneten. Die Leute sängen und tanzten in den Straßen, weil sie sich über den lang ersehnten Regen freuen würden. Darauf muss man kommen.

Wie dem auch sei: Verantwortlich für den Chemiewaffenangriff ist einzig das Assad-Regime. Nur sie und ihre militärischen Verbündeten haben die Möglichkeiten dazu und die Brutalität dafür.

Trumps nächstes Ziel sollte Damaskus sein

Wir begannen den Aufstand in Syrien in der Hoffnung auf Veränderungen. Wir wollten Meinungsfreiheit, wir wollten, dass die Notstandsgesetze aufgehoben werden. Wir wollten ein Ende der Korruption. Wir wollten bessere Schulbildung und Gleichberechtigung für die Frauen. Wir wollten, dass die Rolle der Geheimpolizei eingeschränkt wird. Wir wollten, dass Syrien ein progressives Land ist. Das Regime antwortete mit Gewehren und Gewalt und tötete wahllos Zivilisten in den Straßen. Gnadenlos werden Kinder und Erwachsene getötet. So will das Regime die Opposition einschüchtern und zum Schweigen bringen. Aber man kann die Revolution nicht töten. Die Revolution ist ein Gedanke und kein Mensch.

Die Rechten von heute rufen „Lügenpresse“, weil sie sich durch die etablierten Medien nicht vertreten fühlen – ähnlich wie 1968 die Linken. Lesen Sie in der taz.am wochenende vom 8./9. April einen Essay über die Karriere eines Kampfbegriffs. Außerdem: Eine Reportage über einen Hotelier in Bautzen, der Flüchtlinge einziehen ließ und als Herbergsvater glücklich wurde – bis Brandsätze flogen. Und: Wie der Oscar der Glaubwürdigkeit des Schwulen-Dramas „Moonlight“ geschadet hat. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Überrascht war ich dann allerdings, als ich am Freitag, dem 7. April die Nachricht hörte, dass Trump Assads Armee bombardiert hat. Bisher hat Trump die Situation in Syrien mit den Augen von Putin gesehen. Aber die Fotos von den toten Kindern haben die Welt aufgerüttelt. Selbst Ivanka Trump hatte am 5. April auf Twitter geschrieben: „Untröstlich und wütend über die Bilder aus Syrien nach dem ges­trigen Chemiewaffenangriff.“

Syrer dachten, Trump sei ein neuer Verbündeter von Assad. Der Angriff der Amerikaner indes könnte uns unsere Meinung ändern lassen. Bedeutet es doch: Der Krieg geht in eine neue Phase, insbesondere da auch Frankreich und Deutschland das Vorgehen der USA billigten. Die meisten Syrer trauen der internationalen Gemeinschaft nicht mehr. Wenn Trump es wirklich ernst meint, dann sollte sein nächstes Ziel Da­maskus sein. Da steht Assads Thron.

Übersetzung: Waltraud Schwab

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