: Ein fraktionsloser Abgeordneter nervt den Bundestag
Der ehemalige Grüne Thomas Wüppesahl wehrt sich gegen seine parlamentarische Ausgrenzung / Welche Rechte hat ein fraktionsloser Abgeordneter? ■ Von Gerd Nowakowski
Heinz Westphal, Vizepräsident des Bundestags, kostete es sichtlich Mühe, nicht die Fassung zu verlieren: „Es gibt auch Formen, die über das hinausgehen, was erträglich ist.“ Der Abgeordnete Thomas Wüppesahl konterte kühl: „Ich teile ihre Einschätzung in bezug auf die Erträglichkeit. Aber das gilt beiderseits.“
Bis zur Weißglut reizte der vor zwei Jahren aus der Fraktion der Grünen ausgeschlossene ehemalige Kriminalbeamte Wüppesahl (35) die Abgeordneten des Bundestags, bis er Mitte Mai erklärte, an den Plenarsitzungen vorerst nicht mehr teilnehmen zu wollen. Minutenlange Tumulte und zahlreiche Debatten zur Geschäftsordnung waren in den letzten Sitzungswochen das Ergebnis des bewußten Parlaments -Guerillero.
Heillose Verärgerung
in allen Fraktionen
Seine Waffe im langen Kampf für die Rechte des einzelnen Abgeordneten, des versklavten Souveräns des deutschen Volkes: die Geschäftsordnung des Bundestags. Sie kennt er inzwischen so gut wie nur wenige, mit ihr sorgt er für heillose Verärgerung in allen Fraktionen.
Seit Wüppesahl wegen zahlreicher Differenzen - die letzte war die von ihm betriebene Nominierung des Barschel -Mitarbeiters Pfeiffer zum schleswig-holsteinischen Spitzenkandidaten - aus der Fraktion der Grünen flog, kämpft er gegen die Phalanx der Fraktionszwänge an. Auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beschäftigt sich mit seinem Fall (siehe Kasten). Am 13. Juni soll nun dort - nach dreimaliger Terminverschiebung - das Urteil verkündet werden. Bereits jetzt aber steht fest, daß der Fall Wüppesahl Diskussionsstoff für Generationen von Staatsrechtlern liefern wird.
In den vierzig Jahren der Bundesrepublik hat es insgesamt 47 fraktionslose Abgeordnete im Bundestag gegeben. Manche wurden aus der Fraktion geworfen, andere traten selber aus. Gemeinsam war fast allen der jähe Sturz in die Vergessenheit. Man erinnert sich noch an den CDU-Ökologen Herbert Gruhl, die vor Kanzler Schmidt aus der SPD geflohenen Linken Karl-Heinz Hansen und Manfred Coppik und auch den Grünen-General Gerd Bastian. Bis zum Ende ihrer Wahlperioden saßen sie meist wortlos hinten in der Ecke und waren schon ins politische Nichts gefallen, bevor sie die Bonner Bühne verließen.
Der Holsteiner Wüppesahl, ausgerüstet mit einer ans Querulatorische grenzenden Sturheit, hat sich dagegen vorgenommen, dem einzelnen Abgeordneten als „Kernzelle des Parlaments“ wieder zu seinem Recht zu verhelfen. Die „Parlamentseinheit“, so Wüppesahl selbstironisch, streitet für den Artikel 38 des Grundgesetzes, der dem einzelnen Abgeordneten ein freies, an Aufträge und Weisungen nicht gebundenes Mandat zumißt. Entgegen der Absichten der Väter des Grundgesetzes hätten sich die Parteien das Parlament zur Beute gemacht. Mehr noch; mit der Fraktionsdisziplin hielten sie den einzelnen Parlamentarier fest im Zwangsgriff: Wer nicht spurt, werde nicht wieder aufgestellt.
Diskriminierungen aufgelistet
Wie einem Abweichler zugesetzt wird, kann der derzeit einzige Fraktionslose unter 516 Abgeordneten belegen:
-Der einzelne Abgeordnete darf keine Gesetze einbringen die Geschäftsordnung verlangt dafür 26 Abgeordnete als Mindestzahl.
-Sein Recht, kleine Anfragen an die Bundesregierung zu stellen - zentrales Informationsbeschaffungsmittel - ist extrem beschränkt. „Großzügig“ gestattete man Wüppesahl zwei mündliche Fragen pro Sitzungswoche und vier kurze schriftliche Fragen pro Monat. Zum Vergleich: „Normale“ Abgeordnete sind in der Zahl der Anfragen - die manchmal bis zu 80 Unterpunkte haben - unbeschränkt.
-Ein Platz in einem der 21 Bundestagsausschüsse - nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zentraler Ort der politischen Arbeit eines Abgeordneten - wird ihm verweigert. In den Ausschüssen werden die Vertreter von Ministerien und Ämtern geladen, Gesetzesvorhaben erarbeitet und Anhörungen durchgeführt. Der Sitz wird nicht aus Mangel verweigert: Es gibt weit mehr Ausschußplätze als Abgeordnete.
-Im „Notparlament“ des Bundestags im Krisenfall hat ein Fraktionsloser ebenfalls keinen Platz; Wüppesahl mußte seinen Sitz nach dem Fraktionsausshluß abgeben.
-Der fraktionslose Abgeordnete ist von finanziellen Mitteln abgeschnitten. Die Fraktionen spendieren sich zusätzlich zu den Abgeordnetendiäten jährlich rund 80 Millionen Mark für Mitarbeiter und für den technischen Apparat - Wüppesahl erhält kein zusätzliches Geld. Er will ausgerechnet haben, daß diese zusätzlichen Mittel zu den Abgeordentendiäten monatlich 42.000 Mark ausmachen.
-Der fraktionslose Wüppesahl hat im Bundestag einen Platz ganz hinten zugewiesen bekommen, ohne Tisch und ohne Telefon. In den Debatten werden ihm vom Präsidium lediglich minimale Redezeiten zugebilligt.
Seit Anfang April ist der eineinhalbjährige Streit eskaliert. In der Osterpause nämlich einigten sich CDU/SPD und FDP darauf, Wüppesahls Redezeit noch einmal zu beschränken. Seitdem stehen ihm nur noch drei Minuten pro Debatte zu - zu wenig, um in einer mehrstündigen Debatte zu einem komplexen Thema zu sprechen. Deswegen nervt Wüppesahl die Parlamentarier mit der Geschäftsordnung. Erfolg: Einmal „erbeutete“ er an einem einzigen Tag insgesamt sechzig Minuten, mehr als viele Abgeordnete in Jahren reden, weil jede Meldung zur Geschäftsordnung eine fünfminütige Begründung erlaubt. „Mißbrauch des Rederechts“ nennt dies Vizepräsident Westphal (SPD). Von der Wut diktiert, beantragte die SPD gar erfolgreich eine zeitweilige Änderung der Gechäftsordnung. Mehrmals wurde ihm das Rederecht verweigert - „alles Munition für Karlsruhe“, freut sich Wüppesahl.
Bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe im Februar verteidigten die Vertreter von SPD und CDU ihre Position. Sie betonten, die Sitzverteilung in den Ausschüssen müsse die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag widerspiegeln; auch andere Abgeordnete hätten nicht das Recht, sich einen Ausschuß selbst zu wählen. Daß Gesetzesvorschläge die Zustimmung von 26 Abgeordneten haben müßten, entspräche der Fünf-Prozent-Klausel bei Wahlen.
Wüppesahl hat wunden Punkt getroffen
Auch die Grünen tun sich schwer in dieser Frage. Lange Zeit haben sie benötigt, bis sie anerkannten, daß Wüppesahl hier einen Punkt getroffen hat, der originär grüner Programmatik von unabhängigen Parlamentariern entspricht. Einer Peinlichkeit konnten sie gerade noch entgehen: Eine bereits dem Karlsruher Gericht zugesandte Stellungnahme des Fraktionsvorstands im nahezu gleichen Tenor wie bei den Alt -Parteien wurde von den vorher nicht konsultierten Fraktionsmitgliedern wieder kassiert. Die Geschäftsordnung dürfe den einzelnen Abgeordneten nicht rechtlos machen, vertrat statt dessen der Abgeordnete Gerald Häfner vor Gericht. Die Grünen treten nun auch dafür ein, Wüppesahl einen Ausschußplatz zuzugestehen. Dies aber müsse durch die Geschäftsordnung des Bundestags geregelt werden und nicht durch die Abgabe eines eigenen Sitzes.
Für die Mitarbeiter der Fraktion der Grünen aber steht noch mehr auf dem Spiel. Den Vorwurf eines verfassungswidrigen Umgangs mit Fraktionsgeldern bei allen Parteien macht Wüppesahl nämlich am Beispiel der Grünen fest. Weil die Diäten nicht für die Beschäftigung von zwei zugestandenenen MitarbeiterInnen ausreichen, lege die Fraktion jedem Abgeordneten im Monat noch rund 3.000 Mark drauf, behauptet Wüppesahl. Dafür aber treten die Abgeordneten ihre „Arbeitgeber-Rechte“ ab; die MitarbeiterInnen genießen dadurch wie die normalen Angestellten der Fraktion Mitbestimmungsrechte und Kündigungsschutz. Diese rechtliche Gleichstellung sei „ein ungeheurer sozialer Fortschritt“ gegenüber der Situation von Abgeordneten-MitarbeiterInnen in anderen Parteien, sagt ein Beschäftigter. Dort sind persönliche Abhängigkeiten, frei ausgehandelte Bezahlung und das Hire-and-fire-Prinzip nicht unüblich. Das Modell der Grünen ist deswegen bei den Abgeordneten der Alt-Parteien nicht gerade beliebt, bei deren MitarbeiterInnen allerdings schon. Bekommt Wüppesahl in Karlsruhe Recht, so die Befürchtung, würde möglicherweise auch dieses Modell zerschlagen.
Wüppesahl Steigbügelhalter
für die „Republikaner“?
Wehren muß sich Wüppesahl auch gegen den Vorwurf, er sei Steigbügelhalter der „Republikaner“. Die beiden Berliner Abgeordneten der „Republikaner“, die ab 1990 im Bundestag sitzen werden, könnten ernten, was der dann voraussichtlich abgetretene Abgeordnete Wüppesahl erstritten hat. „Entweder man nimmt das Parlament ernst oder man schafft die Wahlen ab“, hält dem Wüppesahl entgegen und verweist darauf, sein Anliegen gelte einem veränderten Parlament, unabhängig von der Parteizugehörigkeit: Sei jemand gewählt, müßten ihm auch gleiche Arbeitsbedingungen zugestanden werden wie allen anderen Abgeordneten.
Nun hat Wüppesahl ja mittlerweile erklärt, er nehme an den Plenarsitzungen bis zur Wiederherstellung seiner Rechte nicht mehr teil. Ob die Abgeordneten aufatmen können, wird sich am 13. Juni zeigen.
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