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Ein deutsches Theater

Der neue künstlerische Betriebsdirektor mußte nach Vorlage einer internen Betriebsanalyse gehen/ Das Deutsche Theater in Berlin — eine Bestandsaufnahme  ■ Von Stefan Matzig

Das Deutsche Theater in der Schumannstrasse, ganz in der Nähe des Bahnhofs und ehemaligen Grenzübergangs Friedrichstraße, ist ein Haus mit Tradition. Hier stellte sich um die Jahrhundertwende Otto Brahm an die Spitze der naturalistischen Bewegung und verschaffte später Max Reinhardt den expressionistischen Neuerungen Weltgeltung. Auch zu DDR-Zeiten genoß die Bühne einen guten Ruf, mit dem sie heute Schritt zu halten sucht. Denn Umwandlung und Umdenken fallen schwer, manchem Vordenker liegen dabei alte Seilschaften im Weg.

Obwohl erst Anfang Juli als westdeutscher Theatermanager reimportiert, wurde der neue künstlerische Betriebsdirektor Peter Hahn im vergangenen Monat von Intendant Dieter Mann fristlos entlassen. Der persönliche Berater des Intendanten, der aus West-Berlin stammende Dr. Klaus Siebenhaar, begründete den Schritt damit, Hahn habe „die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt, und es gab Unvereinbarkeiten“.

Unvereinbarkeiten gab es in der Tat. Hahn hatte nämlich in einer internen Betriebsanalyse der Theaterleitung Fehler und Versäumnisse im ersten Halbjahr des Jahres 1990 vorgeworfen und sie beschuldigt, einen tiefgreifenden Strukturwandel zu verzögern. Ausdrücklich betont jedoch Klaus Siebenhaar: „Es besteht kein Zusammenhang zwischen der Kündigung und dem zehnseitigen Positionspapier von Herrn Hahn.“ Um welche Unvereinbarkeiten es sich bei der Kündigung handele, wollte er mit Rücksicht auf den schwebenden Rechtsstreit nicht sagen.

Offiziell werden Hahn — in der am schwarzen Brett ausgehängten Kündigung (!) — drei Punkte zur Last gelegt: der Verdacht auf Veruntreuung von Etatmitteln, Kompetenzüberschreitung und Vertrauensmißbrauch. Nach Hahns eigener Aussage stand ihm jedoch während seiner gesamten Anstellungsdauer kein eigener Etat zur Verfügung, alle Ausgaben hätten beantragt werden müssen und seien von der stellvertretenden Intendantin Rosemarie Schauer genehmigt worden. Andere sprechen von der angeblichen Strapazierung des schmalen Werbemitteletats. Offen bleibt, warum die Intendanz bisher auf ein Verfahren in Sachen Veruntreuung verzichtet hat.

Die Vorgehensweise einer fristlosen Kündigung einschließlich Hausverbot scheint unvorbereitet, wenn nicht überhastet erfolgt. Die Schauspielerin Ulrike Krumbiegel bringt damit einen weiteren Aushang des Intendanten am schwarzen Brett in Verbindung, worin unter Androhung gerichtlicher Schritte den Mitarbeitern des Hauses die Weitergabe interner Informationen an Dritte untersagt wird. Daß die in ihrem Ton recht ruppige Betriebsanalyse von Hahn eine Rolle bei seiner Entlassung gespielt haben mag, will auch der Schauspieler Otto Mellies, ein Freund des Intendanten, nicht ausschließen.

Was ist es, das die noch zu Zeiten des SED-Chefideologen Kurt Hager eingesetzte Intendanz um Dieter Mann so vor den Kopf stoßen könnte? Peter Hahn, der 1973 die Weltspiele in Ost-Berlin mitorganisierte und unmittelbar danach die DDR wegen beruflicher Repressalien verlassen hatte, behaupet, daß die politische Vergangenheit die Leitungsmitglieder voneinander abhängig macht und unmitterlbaren Einfluß auf ihren Führungsstil und die Erneuerungsfähigkeit des Theaters hat. Vielleicht veranlaßte dieser Ansatz bestimmte Ensemble-Mitglieder, Hahns Betriebsanalyse „als das Vernünftigste, das seit langem an diesem Theater gesagt wurde“ zu bezeichnen.

Das Problem des enormen Zuschauerrückgangs sehen der ehemalige Betriebsdirektor Hahn und der Intendantenberater Siebenhaar ähnlich gravierend. Das Große Haus (690 Plätze) ist durchschittlich zu etwa 60 Prozent ausgelastet, die Kammerspiele (419 Plätze) liegen noch deutlich darunter. Während Siebenhaar den Zuschauermangel ausschließlich auf „die besondere historische Situation“ zurückführt, macht Hahn außerdem „Mittelmaß und Gleichgültigkeit“ innerhalb des Hauses dafür verantwortlich. Hahn sagt, das Deutsche Theater stecke nicht nur in einer organisatorischen, sondern auch in einer künstlerischen Krise.

So ist der Spielplan die mittlerweile veraltete Visitenkarte der gestürzten Sachverwalter, das Dokument des Rahmens, in dem sich Kritik äußerstenfalls bewegen durfte. Ein Monat auf dem Lande (Turgenjew), vom designierten Nachfolger Manns, Thomas Langhoff, inszeniert, und Alexander Langs Totentanz (Strindberg) sind gewiß herausragende Inszenierungen, die den Ruf des Theaters begründet erscheinen lassen; das eine eindringlich psychologisierend, das andere souverän choreographiert. Beide sind aber Zeugnisse für den freiwilligen oder erzwungenen Rückzug der DDR ins Private, mit ihrer Vorliebe für Interieurs, die vielfach gebrochene kleine Welt. Wo Kritik an den zerstörerischen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens tabu war, beschränkte man sich darauf, die Zerstörungen zu analysieren — dafür hatte man ein pädagogisches Alibi im Gepäck.

Eine Variante der sozialistischen Bewußtseinsbildung bildete die dialektische Aufbereitung der großen Inhalte, wie sie Friedrich Solter inszeniert hat. Obwohl wahrlich kein Dissident, lavierte Solter um die Verkündung der staatstragenden Wahrheit herum; trotzdem kommt das weltverbesserende Pathos seiner rapide wechselnden Alltagsstilisierungen inzwischen etwas steif über die Rampe. Solter spielte mit den Erwartungen, die eine Folie „DDR- Gesellschaft“ auf die Bühne projizierte; daß diese Unterlage mit all ihren Bezügen seit dem Mauerfall zur historischen Makulatur geworden ist, schwächt seine Inszenierungen ganz erheblich und raubt ihnen die Orientierung.

Sind die Inszenierungen von Solter Arbeiten, die von der Geschichte überrumpelt wurden und auf einen Neuanfang hoffen lassen, so war die Uraufführung von Jörg-Michael Koerbls Die Kommunisten, der ersten Premiere der Spielzeit, ein kostspieliger Flop, der bereits wieder vom Spielplan verschwunden ist. Wer auf die Aufarbeitung der Umwälzungen des letzten Jahres gehofft hatte, wurde von der verständnislosen Inszenierung Michael Jurgons' enttäuscht. Weder verstand es der Regisseur, mit geeigneten Mitteln die Fadenscheinigkeiten zu nutzen oder zu überspielen, noch merkte er überhaupt, daß er eine dringende Frage vor sich hatte.

In den letzten Kriegstagen 1945 treffen im zerbombten Berlin Kommunisten unterschiedlicher Couleur aufeinander, bilden bestimmte Konstellationen. Hätte man sich da nicht fragen sollen, wie es in den vergangenen vierzig Jahren überhaupt so weit kommen konnte, was damals begann? Statt dessen der ungebremste Unsinn, die — wie uns der Theaterzettel schon verspricht — „suggestiv erzählte Geschichte eines auseinandergerissenen Liebespaars, das schließlich in einem Doppelselbstmord Hochzeit feiern darf“. Die Vergangenheit ist für Jurgons tot: „Der Blick zurück, den dies Stück riskiert, ist denn auch einer, wie er auf die sorgfältig präparierten fossilen Fundstücke in einer Museumsvitrine fallen mag.“

Aber nicht nur der mißlungene Start in die neue Spielzeit kennzeichnet den derzeitigen Zustand des Deutschen Theaters. Vor allem die Misere der Kammerspiele zeigt, wie weit das Deutsche Theater, das ehemalige Herzstück des Reinhardtschen Theaterimperiums, von seinen Glanzzeiten entfernt ist. Bei wenigen Vorstellungen sind, so hält Hahns Betriebsanalyse fest, die Kammerspiele zu fünfzig Prozent besetzt, aber nicht selten finden sich höchstens vierzig bis sechzig Leute ein. Mit einem veralteten Spielplan stehen die Kammerspiele im Schatten des Großen Hauses, es fehlen die Stücke, für die Max Reinhardt die Kammerspiele bauen ließ, Stücke von Molière, Schnitzler und Hofmannsthal, von den Hausautoren des Deutschen Theaters um die Jahrhundertwende, Hauptmann und Wedekind. Der „Kammer“ fehlt ein Konzept, das ihr wieder ein unverwechselbares Ansehen verleiht, und solange Klassikerpremieren wie Der zerbrochene Krug (Kleist) und Diener zweier Herren (Goldoni), zwei durchaus für die Kammer geeignete Stücke, im Großen Haus, in der Kammer selbst aber Ein Stall voller Schweine (Fugards), Südpol (Kage) oder Ab jetzt (Ayckbourne) neuinszeniert werden, wird sich nichts an ihrem Schicksal als Anhängsel des Schauspiels ändern.

Das Deutsche Theater („schon immer ein Theater der Schauspieler und der Regissuere“, so Siebenhaar) muß außerdem einen schweren Aderlaß verkraften: Zu Beginn der Spielzeit wechselten endgültig so wichtige Schauspieler wie Christian Grashof, Dieter Montag und Katja Paryla vom Deutschen Theater ans Schillertheater zu Alexander Lang, und am Ende der Spielzeit werden Michael Gwisdek und der Star des DDR-Theaters, Ulrich Mühe, das Haus verlassen. Ein Theater kann einen Schauspieler nicht um jeden Preis halten, jedoch sind die Abgänge von Grashof, Montag und Paryla noch eine Folge der verfehlten Theaterpolitik Dieter Manns, die mit den Querelen um den Regisseur Alexander Lang begann und ihn schließlich gehen ließ.

Die Weggänge seiner Kollegen seien beklagenswert, findet auch der Schauspieler Otto Mellies, aber „das Deutsche Theater ist immer in der Lage, sich wieder aus sich selbst zu erneuern“. Dem konnte sich Peter Hahn nicht ohne weiteres anschließen. Bei der Bestimmung seines Selbstverständnisses könne gerade ein Haus wie das Deutsche Theater in so einer Übergangszeit nicht auf die unbequemen und kritischen Meinungen aus dem Ensemble verzichten. Die kritischen und unbequemen Leute waren es auch, die im vergangenen Jahr während der Wende offene Briefe und Resolutionen gegen den Willen des ideologisch zuverlässigen Intendanten Dieter Mann durchsetzten, die der Rehabilitierung Walter Jankas in einer Lesung öffentlich Nachdruck verliehen und die schließlich die eindrucksvolle Demonstration am 4.November auf dem Alexanderplatz im Deutschen Theater mitorganisierten. Der Anteil an der Wende, den Klaus Siebenhaar pauschal für das Deutsche Theater reklamiert, ehrt diese Leute und beschämt den Intendanten und jene, die Anfang Oktober noch an den „Sehr geehrten Genossen Honecker“ eine Ergebenheitsadresse sandten und bis zuletzt die Verlesung der Resolution zu verhindern suchten.

Inzwischen ist jedoch wieder eine eigentümliche Gleichgültigkeit am Deutschen Theater eingekehrt. Die Passivität der sich auf ihren eigenen Bereich beschränkenden Schauspieler und der starre Führungsstil der seit der Wende — außer mit Hamlet — glücklosen Intendanz gehen dabei Hand in Hand. Die Theaterleitung bemüht sich um ein neues, nach Art der Wende zeitgemäßes Profil, aber den eigentlichen Problemen, wenn man sie packen kann, geht sie aus dem Weg wie bei den Kommunisten, in den nichtssagenden dramaturgischen Blättern des Hauses, den plumpen Anpreisungen des Theaterzettels oder in der Reihe gesichtsloser Matineen; auch das Pantomimenensemble, ein erhaltenswertes DDR-Spezifikum an einem Staatstheater, wurde entlassen.

„Die Enge der DDR war immer die Enge des Deutschen Theaters“, beschreibt der Schauspieler Ulrich Mühe die Situation: „Kein Theater war so sehr Spiegel der DDR wie das Deutsche.“ Peter Hahn zog in seiner Betriebsanalyse daraus praktische Konsequenzen: um den Kreis einstmals und heute aufeinander angewiesener Leute zu sprengen, die um den Erhalt des eigenen Stuhls kämpfen, forderte er eine Erweiterung der Leitung durch kritische und kompetente Vertreter aus dem technischen, organisatorischen und künstlerischen Bereich, erst dann ließe sich von einer wahren Strukturveränderung sprechen.

Thomas Langhoff als designierter Nachfolger Dieter Manns tritt in der nächsten Spielzeit ein schweres Erbe an. Nicht nur, daß die ausreichende Finanzierung des Theaters bisher ungeklärt ist, von der Langhoff seine endgültige Zusage abhängig macht, auch die „schwierige Übergangszeit, auf die man künstlerisch reagieren muß“, wie Dr. Siebenhaar sagt, wird bis dahin keineswegs überwunden sein.

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