Ein bitterer Akzent

■ Volker Kühns „Totentanz — Kabarett hinter Stacheldraht“, ARD, 20.15 Uhr

Nach Auschwitz, so Adornos Verdikt, sei kein Gedicht mehr möglich. Angesichts einer Tat, die kaltblütigen Völkermord mit ingenieurischer Planung vereinte, habe die Kunst zu schweigen. Volker Kühns Dokumentation Totentanz — Kabarett hinter Stacheldraht setzt hier einen sehr bitteren Akzent, denn selbst in den KZs wurde gelacht, gewitzelt und gedichtet. In Dachau, Buchenwald, Sachsenhausen, Esterwegen und in Bögermoor entstanden Sprüche wie die des einstmals berühmten Conferenciers Fritz Grünbaum, der, als ihm ein Aufseher einmal ein Stück Seife verweigerte, über seine Lage witzelte: „Wer kein Geld für Seife hat, soll sich auch keine KZs halten.“

Das holländische Durchgangslager Westerbork, in dem prominenete Kabarettisten der Berliner und Wiener Kleinkunstszene gefangengehalten wurden, die nach 1933 in die benachbarten Niederlande geflüchtet waren, wurde auf Befehl des SS- Obersturmbandführers Gemmeker zur Hochburg des europäischen Kabaretts.

Die Conferenciers Max Ehrlich und Franz Engel, die Komiker Otto Wallburg, Hermann Feiner und Josef Baar, die Kabarettistinnen Chaja Goldstein und Alice Dorell, Tänzer und Musiker wie Otto Aurich und Erich Ziegler, der Altmeister des Kabaretts Rudolf Nelson, die einstigen Stars der Berliner Revuen, Camilla Spira und Kurt Gerron, und schließlich der Schlagerkomponist Willy Rosen — sie alle übten ihre Kunst auch noch im KZ aus. Bis in den Tod. Sie wollten sich und ihren Mithäftlingen Mut machen durchzuhalten. Sie wollten die Selbstmordraten in den Lagern senken, und sie rechneten sich durch ihre Auftritte Chancen fürs Überleben aus.

Kabarett hinter Stacheldraht, von den Meistern ihres Fachs dargeboten, wurde von zynischen SS-Schergen zunächst geduldet. Später, mit wachsendem militärischen Druck auf Deutschland, wurden Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung dazu benutzt, in der Rüstung beschäftigte jüdische Zwangsarbeiter bei Laune und damit arbeitsfähig zu halten.

In Theresienstadt, dem Vorzeigelager der Nazis, gründete Kurt Gerron 1944 auf Befehl ein Kabarett mit dem Namen „Caroussell“. Martin Roman, einstmals ein bekannter Jazz-Musiker, wurde zum Bandleader der sogenannten „Ghetto Swingers“ ernannt und sollte die den Nazis so verhaßte „Niggermusik“ spielen. Um Delegationen und internationale Hilfsdienste weiter über die Lage der Juden hinwegzutäuschen, wurde Theresienstadt nach einer perfiden Idee Himmlers zu einem potemkinschen Filmdorf aufgebläht: „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, existiert nicht mehr, bis auf einige Schnipsel, die Volker Kühn während der Recherche finden konnte. Daß der erfahrene Ufa-Regisseur Kurt Gerron damals die Regie führen „durfte“, rettete ihn nicht vor der Gaskammer in Auschwitz. Vor der ebenfalls musiziert wurde.

Daß dieses Thema erst 45 Jahre später der Vergessenheit entrissen wird, spricht nicht für den Willen zur Vergangenheitsbewältigung. „Die Zeitzeugen“, so Volker Kühn, „sind nicht ermutigt worden, darüber zu sprechen.“ Auch andere ARD-Anstalten zeigten gegenüber Kühns Projekt anfangs Skepsis, so daß der Film zunächst vom Hessischen Rundfunk alleine getragen wurde.

Ein Ansporn, die Arbeit in Angriff zu nehmen, sei „die Fülle des Materials“ gewesen, die ihn „jedesmal umhaut“. Kühn, der 1973 mit Dieter Hildebrandt die „Notizen aus der Provinz“ startete und sich u.a. durch Autorschaft und Herausgabe von Sachbüchern über Kabarett als Fachmann etablierte, hat sogsam ein Abgleiten in sentimentalisiernde Rührseligkeit vermieden. Vor weinenden Gesichtern befragter Zeitzeugen blendet die Kamera diskret ab. Anreißerische Spekulationen über eine psychologische Dimension des Gezeigten werden unterlassen. Eine auf 70 Minuten bemessene Langfassung für die dritten Programme ist in Vorbereitung. Manfred Riepe