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Archiv-Artikel

Ein bisschen mehr Leidenschaft

In Flensburg herrschen beim Handball Verhältnisse wie sonst nur beim Fußball. Die Ultras der SG Flensburg-Handewitt unterstützen ihr Team stehend bis an die Grenze des guten Geschmacks – und manchmal auch darüber hinaus

aus Flensburg von Christian Görtzen

Wenn das Licht in der Flensburger Campushalle plötzlich erlischt und von irgendwoher aus dem Dunkeln die satten ersten Klänge der Oper „Carmen“ das Erscheinen der eigenen Mannschaft ankündigen, erwacht die Stehtribüne zum Leben. Dort, wo sich bis vor wenigen Minuten junge Menschen noch auf den 31 Stufen der Tribüne räkelten, sitzt niemand mehr. Die Fans der SG Flensburg-Handewitt stehen dicht gedrängt auf dieser schrägen Geraden, direkt hinter dem Tor, und damit sinnbildlich als achter Mann hinter ihrer Mannschaft. In der Handball-Bundesliga sucht diese Stehtribüne ihresgleichen. An keinem anderen der 17 Standorte wird die Begeisterung des jungen Publikums für den Handballsport so komprimiert wie in der Campushalle. Die Einflüsse der Fußballfan-Kultur sind auf der Nordtribüne nicht zu übersehen. So genannte „Wellenbrecher“, im Boden fest verankerte gebogene Stahlrohre, sollen dafür sorgen, dass die Begeisterung der SG-Fans nicht überschwappt und diejenigen, die unten stehen, erdrückt.

Berüchtigte Fansektion

Und dann ist da noch die Choreografie der Anhänger beim Einlaufen ihrer Lieblinge. Große Fahnen in den Vereinsfarben blau-weiß-rot werden eifrig geschwenkt. Auch diese Vielzahl an Flaggen und Spruchbändern lässt sich bei den anderen Klubs der Bundesliga nicht finden. Im Zentrum dieses Fahnenmeeres stehen Sven „Zwiebel“ Siebels (27), Janne Jacobsen (21) und Michael Treckmann (37) in froher Erwartung eines Heimsieges gegen Frisch Auf Göppingen. Alle drei zählen sich, mit merklichem Stolz in der Stimme, zu den „Ultras Flensburg '00“ – jener Fansektion, die in den zurückliegenden Wochen auf wenig ruhmreiche Art von sich Reden gemacht hat.

Beim DHB-Pokalspiel in Kiel flogen Neon-Leuchtstoffröhren aus dem Flensburger Block auf die unteren Ränge der Ostseehalle und trafen dort mehrere Kieler Dauerkarteninhaber. Und am 17. September in Aschaffenburg beim Spiel gegen den TV Großwallstadt sorgten die Ultras gleich für mehrere unschöne Szenen. Der Rauch einer von ihnen, nach eigener Aussage vor der Halle gezündeten bengalischen Fackel waberte durchs Foyer. Zudem initiierten sie während des Spiels einen wortgewaltigen Streit mit dem TVG-Geschäftsstellenleiter Sascha Schnobrich, und zu allem Überfluss war die Aschaffenburger Unterfrankenhalle nach dem Besuch der Flensburger Fans um eine intakte Sitzschale ärmer.

Zwei Tage nach dem Spiel entschuldigten sich die „Ultras Flensburg '00“ in einem offenen Brief an den TV Großwallstadt für die Vorkommnisse. Die Sitzschale sei durch einen Unfall zerstört worden, nicht durch Absicht oder Zerstörungswut, stand darin zu lesen. „Ein Flensburger Fan ist auf einer feuchten Stelle auf der Treppe ausgerutscht und auf diesen Stuhl gefallen“, hieß es. Und weiter: „Wir möchten hier nichts schönreden oder die Schuld von uns weisen. Wir sind von Seiten der TVG-Fans mit Recht kritisiert worden.“

Die SG als Religion

Siebels, Jacobsen und Treckmann sprechen nur ungern über die Vorfälle in Aschaffenburg. Sie wissen, dass solche Aktionen sowohl dem Image der gesamten SG-Fans als auch dem des Vereins Schaden zufügen. Die Sache sei aber aus der Welt gebracht, sagt Siebels. Die anderen beiden nicken. Im nächsten Moment verschanzen sie sich hinter einer Barrikade des Trotzes. „Niemand mag uns, aber das ist uns egal. Wir brauchen keine Freunde in Deutschland. Auf der Stehtribüne, hier bei uns in Flensburg, da gibt es Freunde genug“, sagt Siebels.

„Vollste Rückendeckung“ durch den Verein genössen die Ultras, wenn sie auf der Stehtribüne stünden und den aktuellen DHB-Pokalsieger zu seinen Heimsiegen anfeuerten, sagt Siebels. „Wir haben das Glück, dass unser Manager das gut findet, wie wir für unsere Mannschaft hier Stimmung machen.“ Zudem dürfe man nicht jeden Spruch auf die Goldwage legen, merkt Treckmann an. „Vieles wird uns im Mund umgedreht. Wir sind Fans mit ein bisschen mehr Leidenschaft, wir sind ein bisschen fanatischer, ein wenig enthusiastischer – nach dem Motto: Die SG ist deine Religion.“

Nach einer mäßigen ersten Hälfte führt Flensburg-Handewitt gegen FA Göppingen gerade einmal mit 15:14. Zufrieden sehen Siebels, Treckmann und Jacobsen nicht aus. Schmähgesänge für den Gegner und deren Fans gibt es heute nicht. Seit dem Final Four verbindet Flensburg und Göppingen eine Fan-Freundschaft. Die allerdings für den Verlauf eines Spieles ruhe, wie Michael Treckmann sagt. „Während des Spiels gönne ich der gegnerischen Mannschaft nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln. Mögen mir deren Fans noch so sympathisch sein.“ Nach dem Spiel sei dagegen alles wieder bestens.

Feindbild THW Kiel

Nicht so bei Duellen mit dem THW Kiel. Plötzlich ist von „purem Hass“ die Rede, von „Kieler Drecksäcken“ und von Kiel „als minderbemittelte Stadt“. Dirk Timmann aus Flensburg, der mit seinen Söhnen Torge und Oke ebenfalls auf der Tribüne steht, einige Meter abseits der Ultras, schüttelt über so viel Fanatismus den Kopf. „Die Ultras und ihre dummen ,THW-Hurensöhne'-Gesänge sind doch total peinlich. Da müsste meiner Meinung nach die Mannschaft oder der Verein auch mal drauf einwirken. Über das Niveau der Sprüche kann man sich hier wirklich manchmal ärgern“, sagt Timmann.

Michael Treckmann von den Ultras hat eine andere Sichtweise. „Ohne die Fans auf der Tribüne, ohne die Anfeuerungen, wäre hier nicht viel los. Wir sind spielentscheidend“, sagt er. Letztlich reicht es für Flensburg-Handewitt, nicht zuletzt auch dank der Unterstützung durch ihre Zuschauer zu einem 31:24-Arbeitssieg gegen Frisch Auf Göppingen. Die Fans auf der Tribüne bildeten schon Minuten vor der Schlusssirene eine zappelnde Masse der Glückseligkeit. Eine Viertelstunde nach dem Spiel sitzen noch vereinzelt Fans in Gruppen zusammen und diskutieren über die eine oder andere Spielszene. Ein leerer Plastikbecher rollt bedächtig die Stufen herunter. Die Tribüne hat ihren Schrecken verloren. Bis zum nächsten Spiel.