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Ein bißchen Westen an der Wolga

Bleiben oder gehen, das ist die tägliche und nächtliche Frage der Rußlanddeutschen/ Viele von ihnen träumen von einer Deutschen „Res Publik“ ,wo sie mit „Fleiß und Frömmigkeit“ leben können: „Was Deutsches wollte' mir hier mache'  ■ Aus Marx Irene Dänzer Vanotti

Nachts, wenn sie die Wolga rauschen hört, nachts will Eleonora Herdt bleiben im Land ihrer Väter, beim Grab ihrer Mutter, im Land ihrer Jugend. Am Tag aber, „wenn wieder das schwere Leben anfängt“, dann ist sie entschlossen: „Ich will weg.“

Eleonora Herdt ist Rußland-Deutsche mit ganzer Seele. „Die Wolga fließt durch mein Herz, sagt sie so überzeugt, daß es nicht einmal kitschig klingt. Sie ist 1932 in der Wolga-Republik geboren, von hier 1941 vertrieben und nach Sibirien verschleppt worden, sie schuftete, noch fast ein Kind, in den Internierungslagern der Trud-Armee, lebte in Kasachstan, zog dann in das Städtchen Marx an der Wolga, und grübelt hier nun Tag und Nacht, ob sie schon wieder aufbrechen und nach Deutschland ausreisen soll, wie so viele ihrer Landsleute. „Die Deutschen hier sind miid'“, sagt sie, „90Prozent wollen weg.“ In blauem Wintermantel mit Nerz-Krägelchen zeigt sie auf die heruntergekommenen Holzhäuser im Zentrum von Marx: „Früher sind die schmuck gewesen, mit Schnitzereien verziert.“ Das war vor dem 28. August 1941. In der alten Wolga-Republik.

Zwischen 1924 und 1941 war sie Teil der Sowjetunion und damit der erste kummunistische deutsche Staat. Die meisten der 400.000 deutschen Einwohner waren Bauern und deutlich reicher als ihre russischen Landsleute. Zwei Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941, verfügte Stalin, daß die Rußlanddeutschen das Gebiet sofort räumen müßten. „Diversanten und Spione“ wähnte er unter der Bevölkerung. Tatsächlich war ihm wohl der hohe Lebensstandard der Deutschen ein Dorn im Auge. „Die Wolga-Deutschen sahen in Hitler den Feind, der ihre Heimat überfallen hat“, sagt nämlich Eleonora Herdt übereinstimmend mit Historikern. Sie hätten sich freiwillig zur Roten Armee gemeldet.

In den ersten Tagen wurden sie auch noch genommen. Danach fiel Stalin eine neue Brutalität ein: Nach dem Abtransport von der Wolga in Viehwaggons, wurden Männer und Frauen, in die „Trud-Armee“, die Arbeitsarmee, eingezogen, wo sie in sibirischer Kälte als Gleisbauer oder in Kohlebergwerken schuften mußten. Fast jede Familie verlor Angehörige in der Trud-Armee, die erst in den 50er Jahren aufgelöst wurde.

Ausgesondert blieben die Rußland-Deutschen auch später. Als „Faschisten“ beschimpft, mußten sie für das büßen, was Wehrmacht und SS in der Sowjetunion angerichtet hatten. Eleonora Herdt, zog von Sibirien weiter. Zunächst nach Kasachstan und vor einigen Jahren wieder an die Wolga. Das Versprechen aus dem fernen Moskau, wieder eine Wolga-Republik einzurichten, hat sie angezogen. „Daß das Leben besser wird und im Laden etwas zu kaufen sein wird“, hofft die Rentnerin, die von 400 Rubeln im Monat überleben muß, und glaubt, daß Deutsche mit Organisationstalent das Gebiet auf Vordermann bringen.

Ähnlich hoffnungsfroh ist die deutsche Bundesregierung, die, seit sie nicht mehr jede AussiedlerIn als Trophäe gegen den Kommunismus feiern kann, 80 Millionen Mark als „Wolga-Hilfe“ ausgibt. Zucker, Wurst und reisende Professoren werden geliefert, erfreulicherweise an alle BewohnerInnen, nicht nur an Deutsche. Trotzdem wollen viele nur bleiben, wenn sie eine eigene Republik bekommen.

Das Dorf Konstantinowka gibt einen Vorgeschmack, wie es dort zugehen könnte: Farbige Holzhäuser, grün und rostrot, blau der Gartenzaun, Häuser für 110 deutsche Familien. Sie alle sind erst in den letzten zwei Jahren aus Kirgisien und Kasachstan gekommen in der Hoffnung auf die „Res Publik“. „Was Deutsches wollte' mir hier mache“, sagt Ortsvorsteher Waldoja Fischer und meint einen Ort, in dem Deutsche unangefochten in „Fleiß und Frömmigkeit“ leben können. Diese Tugenden hätten ihnen überall in der Sowjetunion einen gewissen Wohlstand eingebracht. „Arme Deutsche gibt es in Rußland nicht“, sagt Fischer, „aber vom Reichtum alleine kann man doch nicht leben.“

Dennoch glaubt er, sich von den Russen abgrenzen zu müssen. „Sehen Sie, wie armselig ihre Häuser sind“, sagt er beim Dorfrundgang. In drei halb zerfallenen Gehöften leben noch Russen in Konstantinowka. Sie hatten sich vom Zuzug ihrer neuen Nachbarn ebenfalls neue Holzhäuschen versprochen — vergebens. „Heute sind die Deutschen in der Mehrheit, und die Russen sind still“, kommentiert Fischer. Ein Vorgeschmack auf die Wolga-Republik?

In Marx wird das befürchtet. Im größten Betrieb am Ort, der Firma „Radon“, die Videorecorder und Spielzeugautos herstellt, treffen sich eines Morgens bundesdeutsche SpenderInnen von Lebensmittelpaketen und russische ArbeiterInnen des Werkes. Die Stimmung ist eisig, ganz ungewohnt für Rußland, wo sonst die Seele groß und das Herz weit ist. Bemühte Späßchen von den deutschen Herren helfen nicht, eine Runde West-Zigaretten helfen nicht, nichts hilft. Bis einer der Deutschen es mit einem Scherz über den Zoll versucht. Da wird ein Russe lebendig und meint, es sei wichtig, daß die Pakete kontrolliert würden, denn sonst schicke die Bundesrepublik noch Waffen, damit Rußland-Deutsche ihre Republik erkämpfen könnten. In Zeiten nationalistischer Gefühle ufern die Gewaltphantasien aus.

„Wir müssen langsam vorgehen, etappenweise“, plant angesichts dessen der Vize-Chef des Gebiets, Viktor Uchanjow, in Saratow. Eine dieser Etappen ist eine Sonderausbildung für MedizinstudentInnen, zum Beispiel für Sergej. Irgendwo in seinem Stammbaum gab es einen Deutschen. Deshalb büffelt er jetzt, um als Arzt „Grippe“ auf deutsch diagnostizieren zu können. Seine Patienten wiederum lernen die Sprache, um ihn zu verstehen.

Trotz solcher — zum Teil skurriler — Anstrengungen und trotz aller Spannung sind nicht nur Deutsche an der Wolgarepublik interessiert. Auf dem Markt in Saratow sagt ein russischer Lehrer: „Schon früher lebten die Deutschen besser. Sie hatten genug zu essen. Das brauchen wir jetzt wieder.“ So hofft er, daß eine Wolgadeutsche Republik ihm ein wenig Westen bringt, während Eleonora Herdt weiter grübelt, ob sie dorthin ausreisen soll, Tag und Nacht.

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