: Ein bißchen Perestroika in der DDR
■ Mit der Amnestie will die DDR dem Erwartungsdruck nach Gorbatschows Reformen begegnen
Noch vor kurzem antwortete Politbüromitglied Kurt Hager auf die Frage von Reportern, wann denn in der DDR Reformen a la Gorbatschow anstünden mit dem Vergleich: Man tapeziert nicht die Wände neu, nur weil der Nachbar tapeziert. Jetzt hat der Staatsrat anläßlich des 38. Jahrestages der Staatsgründung eine allgemeine Amnestie erlassen, die Todesstrafe abgeschafft und eine Berufungsinstanz beim Obersten Gerichtshof installiert. Honecker will dem Erwartungsdruck entgegenkommen.
Mit der Ankündigung einer allgemeinen Amnestie, der Abschaffung der Todesstrafe und der Einführung eines Großen Senats - erstmals wird eine oberste Berufungsinstanz geschaffen - hat die Staatsführung der DDR am Wochenende im Westen und im Osten für Schlagzeilen gesorgt. Nur zwei Tage nach der Ankündigung Erich Honeckers, in die Bundesrepublik zu reisen, begrüßten alle Bonner Parteien eine Amnestie, die auch für die politischen Gefangenen in der DDR gelten wird. Ist in die DDR endlich ein Hauch von Perestroika und Glasnost aus der Sowjetunion übergeschwappt? Denn wer den Umgestaltungsprozeß in Moskau beobachtet, dem dürfte nicht entgangen sein, daß auch dort zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution eine allgemeine Amnestie verkündet wurde und daß seit einigen Monaten die Diskussion über die Rechtsreform konkrete Gestalt annimmt. Mit der Wirtschaftsreform - so Gorbatschow - muß auch eine Justizreform einherge hen. Die Willkür und die Korruption im Justizwesen der Sowjetunion zu beseitigen und durch ein - wenn auch noch nicht ausgereiftes - neues System zu ersetzen, das mehr Rechtssicherheit für alle garantieren soll, ist die erklärte Absicht der Parteiführung. Tausende von Justizangestellten wurden abgesetzt, Zehntausende von Verfahren wieder aufgerollt. Und auch die wegen „antisowjetischer Propaganda“ verhafteten politischen und religiösen „Gewissensgefangenen“ hoffen auf mehr als nur einen individuellen Gnadenakt. In der Atmosphäre von Offenheit und öffentlicher Kritik werden Schritt für Schritt Konsequenzen aus den Mißständen der bisherigen „Sozialistischen Rechtssprechung“ gezogen. Gemessen an der Radikalität und Tragweite der Diskussion in der Sowjetunion erscheinen die Maßnahmen der DDR eher verhalten. Die Amnestie berührt nicht die zukünftige Kontrolle der Entlassenen durch die Staatsorgane (siehe Interview). Wer innerhalb von drei Jahren rückfällig wird, muß die jetzt amnestierte Strafe dann wirklich absitzen. Bei politischen Straftatbeständen ist diese Bestimmung ein wichtiges Mittel zur Einschüchterung. Solange die Paragraphen 106 (Staatsgefährdende Hetze) und 220 (Staatsverleumdung) weiter bestehen, werden sich die Gefängnisse bald wieder mit Häftlingen füllen. Doch die schon erprobten Maßnahmen zur Wiedereingliederung - der Vermittlung von Arbeit und Wohnung - muß hiesigen Strafgefangenen wie ein Märchen aus einer anderen Welt vorkommen. Man stelle sich nur einmal vor, was im Westen passieren würde, wenn plötzlich (in der DDR werden mehr als 20.000 entlassen werden) über 70.000 Knackis freikämen. Ob und wieviele der Amnestier ten in die Bundesrepublik übersiedeln dürfen, bleibt kurz nach der Ankündigung der Maßnahmen unklar. Bei der letzten Amnestie im September 1979 waren mit 22.000 Entlassenen auch 1.500 politische Gefangene freigekommen. Jedoch nur ein kleiner Teil von ihnen, darunter auch der damalige Regimekritiker Rudolf Bahro, wurden ins Bundesgebiet und nach West–Berlin entlassen. Die Maßnahme erfolgte damals anläßlich des 30. Jahrestages der Gründung der DDR. Mit dem Schritt, die Todesstrafe abzuschaffen, hat die DDR eine seit Jahren angewandte Praxis gesetzlich untermauert, auf Hinrichtungen wird schon länger verzichtet. Nach einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahre 1985 war die DDR damit das einzige Land des Soziali stischen Lagers. Angedroht war die Todesstrafe bisher für Mord, Planung und Durchführung eines Angriffskrieges, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sowie bei den „Staatsverbrechen“ Hochverrat, Spionage, Terror, Diversion und Sabotage. Seit Bestehen der DDR und vorher in der sowjetischen Besatzungszone sind nach westlichen Quellen 130 Todesurteile vollstreckt worden. Während der siebziger Jahre sollen noch fünf Todesurteile wegen Spionage verhängt worden sein. Die Aufhebung der Todesstrafe erscheint so als die logische Konsequenz einer vorausgehenden Entwicklung. Die Ankündigung, durch die „Einführung eines Großen Senats .. eine zweite Instanz für Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Senats des Obersten Gerichts“ zu schaffen, ist neu und auch nicht von Experten erwartet worden. Damit ist es nun möglich, Urteile des Obersten Gerichts anzufechten, eine Neuerung, deren Durchschlagskraft sich erst in der Praxis erweisen muß, zumal die Richter der neuen Instanz aus dem Kreis des Obersten Gerichts stammen werden. Das Land mit einer der „niedrigsten Kriminalitätsraten der Welt“, wie es in der Begründung der Maßnahmen heißt, betrachtet „das sozialistische Staats– und Rechtsbewußtsein“ seiner Bürger als „gefestigt“. Und mit dem Hinweis, „entsprechend den allgemeinen Normen des Völkerrechts“ zu handeln, sieht man sich selbst als honoriges Mitglied der Völkergemeinde. Erich Rathfelder
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