: Ein Toter hat keinen Rhythmus
■ Ein Gespräch mit dem Sänger, Gitarristen und Schriftsteller Francis Bebey aus Kamerun
Rene Styber
taz: Welchen Stellenwert hat die europäische Musik in Afrika?
Francis Bebey: Sie ist in Afrika, seit die Europäer kamen und ihre Musik mitbrachten. Meist fragten sie die Afrikaner gar nicht erst, was sie davon hielten, sondern haben sie ihnen einfach aufgezwungen. Ich hoffe trotzdem, daß die europäische Musik in Afrika weiterleben wird, denn einiges davon mögen die Afrikaner sehr.
Können Sie versuchen, den Hauptunterschied zwischen der Musik der beiden Kontinente zu beschreiben?
Das hängt davon ab, was man als afrikanische Musik bezeichnet. Wenn im deutschen Radio ein afrikanischer Song gebracht wird, dann ist das eine Sache. Ein solches Lied aus Afrika ist Unterhaltungsmusik und nicht unbedingt das, was wir als traditionelle afrikanische Musik bezeichnen. Die traditionelle Musik ist viel enger mit dem Leben in Afrika verbunden als zum Beispiel Mory Kanntes Musik (der mit seinem Song „Yeke Yeke“ in den deutschen Charts ist; Anm.d.V.). Wenn er einen Song singt, dann ist es nur ein Song, man kann ihn aus jedem beliebigen Zusammenhang nehmen, und es bleibt einer. Wenn ein anderer Griot, ein Troubadour, ein Lied singt, dann gehört es in einen Zusammenhang, aus dem man es nicht herausnehmen darf, und wenn man es trotzdem tut, dann verstehen die Zuhörer nicht, worum es geht.
Die Wurzeln der afrikanischen Musik scheinen noch viel deutlicher sichtbar zu sein als die der europäischen. Rührt das daher, daß in der europäischen Musik eine sehr enge Verbindung zum Individuum des Schöpfenden und Interpreten besteht, die in Afrika bis vor kurzem noch nicht existierte?
Das ist richtig, aber das, was wir in Afrika haben, gab es in Europa auch - in sehr alter Zeit. Da gab es auch die Musik der Gemeinschaft, gemeinsame creation. Und die Entwicklung dieser Musik führte zu dem, was ihr jetzt habt: individuelle creation, und ich befürchte, daß Afrika denselben Weg gehen wird. Viele, und das sind gerade die, die man in den Hitparaden hört, sind schon draußen aus dem gemeinschaftlichen Kontext. Sie machen Lieder, die zum Leben ihrer Mitmenschen keine Verbindung haben. Das ist eine Entwicklung, der wir Afrikaner, glaube ich, folgen müssen, wenn wir wollen, daß unsere Musik andere erreicht.
Ist das eine Folge der Kommunikationstechnik?
Ja. Die moderne Zeit bietet Möglichkeiten, die es zuvor nicht gab. Wenn man eine Platte macht, eine Tonaufnahme oder ein Video, dann kann man sich das auf der ganzen Welt anhören oder ansehen, man muß dafür nicht einmal reisen. Das bringt auch in der afrikanischen Musik neue Entwicklungen mit sich.
Ist das ein Weg zur Weltmusik?
Ich glaube daran. Es gibt Leute, die befürchten, daß es dann keine Unterschiede mehr geben wird, aber ich denke, die Leute auf der Welt werden ihre eigene Musik brauchen. Obwohl die Weltbevölkerung stetig wächst, werden wir zu so etwas wie einem Stamm - dem Stamm der Erdbewohner. Es wird der Tag kommen, an dem der Mensch andere Leute aus anderen Welten kennenlernen wird, und dann werden wir die Stammesmusik der Erdenbewohner brauchen. Natürlich träume ich jetzt. Die Dinge verändern sich nicht so schnell, aber die Entwicklung führt zu einer Musik, die aus einer oder vielen Kombinationen verschiedener Musikrichtungen besteht.
Was wäre der Beitrag Afrikas zu einer Weltmusik?
Afrikanische Musik ist sehr reich, wenn man zum Beispiel die Methode betrachtet, deren Existenz die Europäer bislang abgestritten haben, weil sie glauben, daß es bei uns keine Melodie gibt, sondern nur Rhythmus und Trommeln. Gerade was die Melodie angeht, hat Afrika so viel zu geben. Von Algerien bis Südafrika, von Dakkar bis Nairobi gibt es so viele Menschen, die auf so verschiedene Arte und Weise singen und spielen ... Wir haben der Welt viel zu geben. Natürlich auch, was den Rhythmus betrifft, ganz klar. Ich nehme an, daß andere Leute auch Rhythmus haben, aber sie merken es nicht. Auch die Entwicklung neuer Instrumente könnte ein Beitrag sein. In Afrika gibt es ungefähr 3.500 verschiedene Instrumente, mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Viele Instrumente, die als „europäisch“ betrachtet werden, haben ihren Ursprung in Afrika.
Ein Instrument, die Sanza, Mbira oder auch Kalimba, symbolisiert das ganze Leben, die ganze Welt. Dieses Instrument, das manche auch als „Daumenklavier“ bezeichnen, symbolisiert, wenn es gespielt wird, das Gespräch der Lebenden miteinander. Übrigens sagen die Afrikaner, wenn jemand die Metallstäbe der Mbira oder die Saiten einer Gitarre anschlägt, nicht, er berühre die Stäbe oder die Saiten, sondern: „Er berührt den Klang.“ Die Lebenden werden auf der Mbira durch den Klang der Metallstäbe repräsentiert. Die ganz tiefen sind die beiden Großeltern, dann kommen die Eltern, Onkel und Tante, zwei Söhne, zwei Töchter und zwei magische Töne, die höchsten - mit ihnen muß man sorgsam umgehen. Das Zusammenspiel dieser Klänge ist wie das Gespräch der Lebenden. Manchmal verstummt es; dann werden die Ahnen befragt (Bebey nimmt die Mbira und schüttelt sie leicht, so daß die Steine im Inneren des Instruments ein murmelndes Geräusch erzeugen), und das ist es, was sie antworten. Viele Kalimbaspieler haben einen kleinen Spiegel auf ihrem Instrument, in den sie hineinschauen, wenn sie spielen. Europäische Ethnologen haben das mit Eitelkeit erklärt. Damit hat es nichts zu tun. Der Spiegel läßt den Musiker in die Welt des Unsichtbaren schauen.
Kann man einen Synthesizer zusammen mit einer Mbira verwenden?
Nicht nur das. Sie wissen, daß mit Synthesizern der Klang von Mbiras und anderen Instrumenten oder Klängen kopiert wird. Das ist eine gute Idee, die Kalimba in den Synthesizer zu stecken, weil sie so von Nicht-Afrikanern leichter verwendet werden kann. Ich glaube auch, daß die Leute, die kopieren, mit der Zeit die Seele der Kalimba kennenlernen, nicht nur ihren Klang.
Glauben Sie wirklich? Kann das einer verstehen, der auf seinem Synthesizer Kalimbaklänge spielt?
Nicht direkt. Vielleicht kann sich der Techniker, der den Synthesizer gebaut hat, die Seele der Kalimba vorstellen. Vielleicht kann er in ein paar Jahren dem Synthesizer die Seele der Kalimba einpflanzen.
Es gibt so viele Bücher über europäische Musik, daß man mit den theoretischen oder abstrakten Betrachtungen Bibliotheken füllen kann. Sie haben - neben vielem anderen - eines der wenigen Bücher über afrikanische Musik geschrieben. Läßt sich diese Musik mit Worten beschreiben?
Nein, das ist unmöglich. Das geht nicht allein in Worten, dazu braucht man Beispiele. Entweder Fotos oder Tonaufnahmen, oder am besten beides. Noch besser wäre ein Videoband oder ein Film. Ich versuche die Musik Leuten zu beschreiben, die noch nie in Afrika waren, oder solchen, die zwar in Afrika waren, aber noch nicht bemerkt haben, daß wir Musik haben, oder solchen, die glauben, daß Afrika der Welt nichts zu geben hat, oder Afrikanern, die ihre eigene Musik leugnen, weil die Europäer ihnen erzählt haben, es gäbe keine.
Wie primitiv ist die afrikanische Musik?
Ich nenne sie manchmal auch so, weil die Europäer sie so nennen, aber sie ist es nicht. Das, was die Europäer als primitiv bezeichnen, ist vielmehr äußerst kultiviert und inspiriert, genauso wie das afrikanische Leben selbst. Wenn die Europäer diese Art zu leben genauer betrachten würden, dann würden sie etwas sehen, was vollkommen verschieden ist von dem, was sie bisher erkennen konnten. Sie entschieden einfach, daß nichts Gutes daran sei. Aber wenn man hineinsieht, dann ist es sehr sophisticated: Man macht nicht dieses, anstelle von jenem. Das gilt auch für die Musik, denn die traditionelle afrikanische Musik folgt in allen Details dem Leben.
In Ihrer Muttersprache gibt es kein Wort für Musik ...
Es gibt auch keines für Kunst. Wir bezeichnen diese Dinge nicht, wir fühlen sie. Es waren die Europäer, die die afrikanische Kunst überhaupt erst geschaffen haben. Ihr habt geurteilt, dies sei afrikanische Kunst. Uns ist das egal. Unsere Art, über Schönheit zu denken, ist nicht so wie die eure. Wenn wir diese schönen Sachen machen, dann machen wir sie schön und nützlich, sie gehören zu unserem Alltagsleben und zu unserer Mythologie.
In Zeitungsartikeln werden Sie gerne als ein „Mann zwischen zwei Welten“ bezeichnet. Wie fühlen Sie sich mit diesem Prädikat?
Ich gehöre zu zwei Welten, ich bin nicht zwischen ihnen. Den meisten Afrikanern von heute geht das so, ob sie das nun wahrhaben wollen oder nicht. Das fängt ja schon dann an, wenn man eine Fremdsprache spricht; schon dadurch wird man auf gewisse Weise Teil einer anderen Welt. Ich bin an den Universitäten von französisch- und englischsprachigen Europäern erzogen worden. Und das gibt mir das Gefühl, daß ich ein wenig über die Kultur der Leute weiß, die diese Sprache sprechen.
Sie sagten, die Europäer merkten nicht, daß sie auch Rhythmus haben ...
Sie haben ihren Rhythmus in die Maschinen gesteckt. Der Rhythmus läßt die Lokomotive laufen und das Auto. Sie haben den Rhythmus in die Uhr gesteckt. Wenn die Uhr den Rhythmus nicht mehr hat, ist sie tot. Das ist normal: Leben ist Rhythmus, Rhythmus ist Leben. Wenn man tot ist, ist kein Rhythmus mehr da. Ein Toter hat keinen Rhythmus. Das ist der Beweis, daß einer tot ist: kein Rhythmus mehr.
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