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Ein Theaterstück ist kein Sachbuch

■ »Ave Atlantis« in der Neuen Nazarethkirche im Wedding

Solch eine Mutter wünscht man seinen Feinden nicht: ein raunzendes böses Ungeheuer, ein Fettkloß unerbittlicher Häme, angefüllt mit Wodka, Rauch und ätzenden Kommentaren, ständig bereit, des Sohnes Schwäche der Öffentlichkeit preiszugeben, besonders da diese Schwäche das Dichten ist.

Würde der Geheimrat Goethe heute noch leben, er schriebe nurmehr Sachbücher, mäkelt dieser zum nackten Fleisch gewordene Inbegriff des Mutterkomplexes und meint es als zerstörende Verletzung des eigenen Sohnes.

Auch Philipp Kreuzer ist nicht Goethe und schreibt also keine Sachbücher sondern Theaterstücke. »Ave Atlantis« ist eines davon und das erste, das jetzt seine Uraufführung erlebt hat. Seinem Alter Ego im Stück ist ein solcher Erfolg nicht beschieden: Die Verse von Karl-Heinz bleiben unbeachtet, die Säle, in denen die Mutter (!) sie vorträgt, bleiben leer — gestern in Tittlingen, morgen in Kösting. Die Welt als Wiederholungsfalle: eben trifft die 43. Absage ein und löst wieder ein unbändig zersetzendes Gelächter aus — bei der Mutter, bei der Schwester und dem Dichter selber. Hoffnungslosigkeit und Nihilismus sind die dunkelschwarzen Bande, die dieses Familienrudiment zusammenhalten.

Wer immer schon mal wissen wollte, warum die Sache mit der Abnabelung so schwer fällt, bekommt hier heftig Aufklärung. Und wer immer schon mal wissen wollte, was Vollbluttheater ausmacht (und die Hoffnung, es zu finden, noch nicht ganz aufgegeben hat), der kann hier seine Entdeckung machen. Was Regisseur Klaus Emmerich mit seinen drei Schauspielern und einem etwas schmalbrüstigen Stück in Thomas-Bernhard-Manier angestellt, ist phänomenal. Hielt er zuletzt das Publikum (und die Intendanz der Freien Volksbühne) in Atem, indem er den Marat/Sade von Peter Weiss gnadenlos zur Schauspieleretüde zusammenraffte, so hat er nun in der Neuen Nazarethkirche, Leopoldplatz, ein gelungenes Kammerspiel schauspielerischer Urzustände geschaffen. Der Abend gehört den Schauspielern.

Martin Wuttke ist der verhinderte Dichter. Von Anfang an quält er sich in einer laufgestellartigen Bettstatt von der einen auf die andere Seite: ein fahriger, seinen Text herausstotternder Sanguiniker, dessen Fanatismus in der Verhinderung Amok läuft.

Margarita Broich als stile Schwester ist ganz der geistig etwas zurückgebliebene Pragmatismus. Mit riesigen Filzpantoffeln bohnert sie die von Kartoffelbergen unterbrochene Ebene und schält müsam an einem Erdapfel. Diese Zangengeburt verfügt über eine Leidensmiene, die markerschütternd trauern und lachen läßt. Und dann Volker Spengler: wenn eine Mutter zum Trauma wird, dann kann sie nur Volker Spengler heißen. Er schafft es, sich knappe anderthalb Stunden ungerührt in seinem Sessel zu flätzen und mit unnachahmlichem Witz ins Publikum zu geifern — die beste Unterrock-Rolle, die ich je sah. Ein tolldreister Abend für Freunde des exzessiven Theaters. Bedächtigkeit kommt hier nicht vor. Goethe würde staunen. baal

Fr-So, 20.00, Neue Nazarethkirche

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