piwik no script img

»Ein Stückchen muß noch von mir übrig bleiben«

Harry war früher ein »ganzer Kerl«. Ein Schlaganfall beendet sein bisheriges Leben. Halbseitig gelähmt, das Raucherbein amputiert, wird er aus dem Krankenhaus entlassen. Drei Jahre später stirbt er.

Luis, Journalist, möchte einen Roman über Harrys Leben verfassen. Um die alltäglichen Schwierigkeiten seines Protagonisten besser nachvollziehen zu können, mietet er sich eine kleine dunkle Einzimmerwohnung, die der von Harry ähnlich ist. Vier Wochen will sich Luis von der Außenwelt abschirmen, vier Wochen, in denen er sich genau wie Harry in einem Rollsessel fortbewegt und alles mit einer Hand erledigt. Seine Freundin Charlotte ist die einzige Person, die zu ihm darf und Besorgungen für ihn erledigt.

Aus den Wochen werden Monate, und Luis wird immer mehr zu Harry. Charlottes Vorwurf, er mache sich über Behinderte lustig, wird ignoriert. Als er vollends seiner Rolle erliegt, nur noch wie Harry spricht, rollt, säuft, raucht, und dann noch Charlotte mit Margot, Harrys geschiedener Frau verwechselt, verläßt sie ihn. Luis alias Harry läßt sich weiter fallen und verwahrlost immer mehr. Nur mit knapper Not kann er am Ende die Notbremse ziehen: »Ein Stückchen muß noch von mir übrig bleiben«.

»Harry — Faszination der Trägheit« basiert auf einer authentischen Bekanntschaft mit dem wirklichen Harry. Autor und Hauptdarsteller Reiner Strahl definiert die Figur durch den Journalisten Luis, der als eine Art Relais zwischen Zuschauer und Harry geschaltet wird — nur so kann das Stück funktionieren und der Titelrolle gerecht werden.

Reiner Strahl ist ein sehr euphorischer Luis, der in seiner Begeisterung für die selbst auferlegte Aufgabe nicht merkt, wie dekadent er sich tatsächlich gegenüber Harrys Leben verhält. Die beiden Rollen sind klar abgegrenzt und für den Zuschauer gut nachvollziehbar — wenn man einmal vom Ende absieht: die Rückbesinnung aufs eigene Ich erfolgt zu hastig, zu unvermittelt, und die Gründe hierfür scheinen ein wenig an den Haaren herbei gezogen zu sein. Sollte eine von 'Harry' bestellte Prostituierte Luis derart schockieren, daß er wieder zu sich findet ? Vorher hätte ruhig Schluß sein können, ein offenes Ende hätte den dramaturgischen Bogen geschlossen.

Den schauspielerischen Leistungen tut das jedoch keinen Abbruch. Auch Heidrun Rosowski zeigt als Charlotte bzw. Margot einiges an Verwandlungsfähigkeit. Das Zusammenspiel zwischen den beiden Akteuren funktioniert meistenteils und läßt manchen versteckten Witz aufleben.

Kein Melodram, kein rührseliger Brei — die Theaterproduktion Strahl hat einige gefährliche Klippen, die das Thema mit sich bringt, geschickt umschifft. Theateraufführungen in Strickpullovern und Betroffenheitsschuhen sind grauenvoll: Daß das hier nicht so ist, macht das Stück und die gelungene Darbietung empfehlenswert. Anja Poschen

»Harry — von der Faszination der Trägheit« am Freitag um 19.30 Uhr im Club »Gerard Philipe« und am Montag um 21Uhr im Franz-Club.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen