: Ein Stadtteil unter Verdacht
AUS OUTREAU DOROTHEA HAHN
Im Eingang zum Wohnblock „Merles“ – Amseln – riecht es nach Urin. An einer wasserblauen Wand sind drei Kinderwagen abgestellt. Eine dottergelbe Betontreppe führt in den fünften Stock. Vorbei an herausgerissenen Türklingeln. Vorbei an den Stimmen von Müttern, die hinter dünnen Wohnungstüren Kinder erziehen. Vorbei an einem bleichen jungen Mann, der wortlos in einer Ecke am Boden kauert. Ganz oben, hinter der letzten Tür links, von wo aus der Blick auf den Basketballplatz und die Rutsche im Hof der Sozialsiedlung geht, war das Zuhause von Dylan, Jonathan, Dimitri und Kevin. In der Wohnung sind die vier Brüder, heute 8, 10, 12 und 14 Jahre alt, sexuell misshandelt worden.
Der Wohnblock in dem 15.000-Einwohner-Ort Outreau in der nordfranzösischen Hafenstadt Boulogne-sur-Mer gerät Anfang 2001 in die Schlagzeilen. Als Ort des Grauens für Kinder. Die Franzosen erfahren, dass dort außer den vier Brüdern zahlreiche andere Kinder aus der Sozialsiedlung misshandelt wurden. Die Justiz ermittelt gegen ein internationales Pädophilen-Netz – das größte, das je in Frankreich aufgeflogen ist. Als Täter gelten erstens vier Bewohner des Blocks, die von vornherein geständig sind: die Eltern der vier Brüder, Myriam und Thierry Delay, 37 und 40 Jahre alt, sowie ein Nachbarpaar.
Als Täter gelten zweitens 14 Erwachsene, die jede Tatbeteiligung leugnen. Die Medien nennen diese zweite Gruppe „Notable“: Unter ihnen sind ein Taxifahrer und eine Krankenschwester, eine Bäckerin und ein Gerichtsvollzieher, ein Autodieb mit langem Vorstrafenregister und ein Priester, der in Drittweltgruppen aktiv ist. Manche von ihnen sind nie in dem Wohnblock gewesen, sagen sie. Andere kennen die Familie Delay überhaupt nicht, sagen sie. Die meisten sind sich nie begegnet, sagen sie. Doch kein Richter und kein Journalist glaubt ihnen. Im Laufe mehrerer Verhaftungswellen im Jahr 2001 kommen sie alle hinter Gitter.
Seit Eröffnung des Schwurgerichtsprozesses am 4. Mai ist der Fall von Outreau wieder in die Schlagzeilen gekommen. Doch diesmal geht es nicht um die misshandelten Kinder. Sondern um die angeklagten „Notablen“: Täglich kommen neue Zweifel an ihrer Schuld auf. Sie heißen jetzt immer öfter „Justizopfer“. Selbst die Existenz eines „internationalen Pädophilie-Netzes“ erscheint immer fragwürdiger. Am Donnerstagabend vor Pfingsten spricht der Vorsitzende Richter schließlich die lang erwarteten Worte: „Ihren Anträgen wird stattgegeben“: Die Handschellen der sieben noch inhaftierten „Notablen“ werden ihnen abgenommen. Nach 30 Monaten Haft verlassen die meisten das Gerichtsgebäude weinend. Sie sind weiterhin Angeklagte. Aber dürfen von nun an auf freiem Fuß ins Gericht kommen. In der Hoffnung, am Ende von den Geschworenen freigesprochen zu werden.
Was als größter französischer Pädophilen-Prozess begann – und als Justizskandal enden könnte –, hat auf dem Schreibtisch von Fabrice Burgaud begonnen. Für den 30-jährigen Untersuchungsrichter ist es der erste große Fall seit seinem Universitätsabschluss. Mehrere Dutzend Kinder aus der Sozialsiedlung berichten ihm von Vergewaltigungen durch Männer und Frauen. Von Sex mit Schäferhunden und anderen Tieren. Von Orgien auf einem Bauernhof in Belgien. Und von Videos, die gedreht wurden. Gutachter nennen die Kinder „glaubwürdig“.
Auch Myriam Delay, der Mutter der vier Brüder, bescheinigen die Gutachter Glaubwürdigkeit. Sie gibt ohne Zögern zu, dass sie ihre Söhne jahrelang vergewaltigt hat. Das macht sie zu einer Hauptangeklagten. Zugleich ist Myriam Delay die Hauptanklägerin in dem Pädophilen-Prozess. Die Mutter bestätigt sämtliche Anschuldigungen, die der Untersuchungsrichter ihr vorlegt. Er sagt, ihre Kinder hätten von einem Gerichtsvollzieher gesprochen. Myriam Delay zählt so lange die Namen der Gerichtsvollzieher auf, die in ihrer Wohnung pfänden wollten, bis sie den „richtigen“ nennt. Der Untersuchungsrichter sagt, die Kinder hätten „den Mann der Bäckerin“ erwähnt. Myriam Delay nennt dessen Namen.
Das Netz der Pädophilen wird immer verzweigter. Mehr als 40 Erwachsene geraten ins Visier des Untersuchungsrichters. 18 von ihnen landen im Gefängnis.
François Mourmand hat die Untersuchungshaft nicht überlebt. Der Vater von sieben Kindern starb am 9. Juni 2002 33-jährig in seiner Gefängniszelle. „Selbstmord durch Tablettenmissbrauch“, sagt die Gefängnisleitung. „Ausgeschlossen“, sagt Lydia Cazin, die ihren Bruder in der 17-monatigen Untersuchungshaft oft besucht hat. „François war unschuldig“, ist die Schwester überzeugt, „er hatte Pläne für die Zukunft.“ Als Beleg zeigt sie die in ungelenker Schrift verfassten Briefe aus dem Gefängnis. „Schwester“, steht in einem, „ich schwöre, dass ich damit nichts zu tun habe.“
Im Wohnzimmer ihres Reihenhauses im Norden von Boulogne-sur-Mer hat Lydia Cazin ein Foto ihres Bruders aufgehängt. Es zeigt einen Mann, der seine tätowierten Arme vor den Körper hält. Vor der Pädophilen-Affäre hat François Mourmand mehrfach wegen Diebstahls gesessen. Wenn er wieder mal wegen Autoknackerei angeklagt worden wäre, hätte sich niemand gewundert. „François hat viele Dummheiten gemacht“, sagt die Schwester, „aber er hat immer alles gestanden. Und Kinder waren ihm heilig.“
Lydia Cazin wollte dem Untersuchungsrichter erklären, warum ihr Bruder kein Pädophiler sein kann. Doch Fabrice Burgaud hat nicht einmal auf ihre Briefe geantwortet. Seit Lydia Cazin weiß, dass alle anderen „Notablen“ aus der Untersuchungshaft entlassen worden sind, kann sie kaum noch aufhören zu weinen. „Die anderen Angeklagten“, sagt sie, „haben ein paar Jahre verloren. Aber sie haben noch Leben vor sich. Uns bleibt nichts mehr.“
Die zerstörten Leben der Angeklagten von Outreau füllen viele Zeitungsseiten. Es geht um zerbrochene Freundschaften und Ehen, um entzogenes Sorgerecht, um verlorene Arbeitsplätze und Geschäfte. Und um ein Misstrauen gegen sie, das möglicherweise lebenslang bleiben wird. Niemand kann erklären, warum die Justiz trotz aller Ungereimtheiten seit drei Jahren an ihrem Vorwurf festhält. In Paris kündigt Justizminister Dominique Perben an, dass nach Prozessende „über Konsequenzen“ nachgedacht werden müsse: „falls in Outreau gelogen wurde“.
Die Wende, die den Fall Outreau von einem großen „internationalen Pädophilie-Netz“ zu einem traurigen Fall von Inzest in der Nachbarschaft macht, kündigt sich spätestens bei der Prozesseröffnung an. Da bezeichnen der Vater der vier Brüder, Thierry Delay, und sein Nachbar alle Beschuldigungen gegen die „Notablen“ als falsch. Täter seien allein sie selbst und ihre Frauen gewesen. Sonst niemand. Die Männer bestreiten auch die hohe Zahl der Opfer. Von angeblich 17 missbrauchten Kindern bleiben je nach Version vier oder sechs übrig. In ihren Aussagen hinter verschlossenen Türen bei Gericht verstricken sich auch mehrere Kinder in Widersprüche.
Dann machen auch die beiden Frauen aus dem Wohnblock Merles Rückzieher. Myriam Delay, die Mutter der vier Brüder, erklärt schluchzend: „Ich bin krank. Ich habe gelogen. Sie sind alle unschuldig.“ Dann zählt die Frau, die selbst als Kind von ihrem Vater vergewaltigt wurde, jene Erwachsenen auf, die sie seit drei Jahren beschuldigt hat. Unter anderen: die Bäckerin, die ihr „wie eine Freundin“ Geld geliehen habe. Der Gerichtsvollzieher, „dem ich nur einmal begegnet bin“. Der Taxifahrer, „der so gut ist, wie ich mir meinen Vater gewünscht hätte“.
In dem Moment sackt Christine Martel auf der Besucherbank im Gericht zusammen. Seit dem 14. November 2001, als ihr Mann, der Taxifahrer Pierre Martel, um sechs Uhr morgens in Handschellen abgeführt wurde, wartet die Französischlehrerin auf seine Rehabilitierung. „Du kannst den Kopf hoch halten“, hat er seiner damals 49-jährigen Frau zum Abschied zugerufen. Sie ist ohne ihn 50 geworden. 51 und 52. Und hat ihn jede Woche zweimal im Gefängnis besucht.
Am Donnerstagabend verlässt die Lehrerin Martel Hand in Hand mit ihrem Mann das Gericht. Keiner von beiden bringt ein Wort heraus. Ihm laufen Tränen über das Gesicht. Er ist jetzt 55. Hinter Gittern hat er 15 Kilo abgenommen. Bevor er als „Pädophiler“ in die Fänge der Justiz geriet, kannte der Taxifahrer die Familie Delay flüchtig: Wenn zum Monatsanfang die Sozialhilfe kam, fuhr er sie zum Supermarkt. Dem Untersuchungsrichter hat er versichert, dass er sonst keinen Kontakt mit ihnen hatte.
Christine Martel hat vor der Freilassung ihres Mannes gesagt, sie empfinde für die vier vergewaltigten Söhne und ihre Mutter „Mitleid“. Ihre Wut richtet sich gegen die Justiz. Sie will jetzt nur noch warten, bis ihr Mann am Ende des Schwurgerichtsprozesses freigesprochen wird. Und dann gegen den Untersuchungsrichter klagen.
Untersuchungsrichter Fabrice Burgaud ist längst nach Paris versetzt worden. Zu seinem eigenen Schutz. Seine Methode, im Zweifel gegen die Beschuldigten zu ermitteln und Entlastungszeugen erst gar nicht zu vernehmen, hat das Vertrauen in die Justiz in Outreau tief erschüttert.
Der „Arbeiterpriester“ Dominique Wiel hat auf derselben Etage wie Familie Delay gewohnt. Er wusste, dass die Eltern „ein Alkohol- und Gewaltproblem hatten“, sagt Patrick Gence, ein Freund des Priesters, „und er hat ihnen einen Entzug vorgeschlagen. Aber Denunziation war nicht seine Aufgabe.“ Am Donnerstagabend verlässt der 67-jährige Wiel lächelnd das Gericht. In Merles hat er Generationen von Kindern getauft, zur Kommunion gebracht und später mit ihnen Karten und Boules gespielt. Als er in Haft kam, gründeten seine Freunde aus Drittweltgruppen und Gewerkschaften ein Unterstützungskomitee. Und sie bezahlten 30 Monate lang die Miete für Dominique Wiels Wohnung: „damit er weiter mit den sozial Schwächsten leben kann“.
Seit Bekanntwerden des „Pädophilen-Netzes“ ist Merles komplett renoviert worden. Fast alle alten Mieter sind weg. Die neuen sind ebenfalls arbeitslos, zahlen symbolische Mieten von 25 oder 35 Euro. Mit Journalisten wollen sie nicht sprechen. „Ihr zeigt mit dem Finger auf uns“, schimpft eine Frau durch die geschlossene Wohnungstür. Am Rand des Basketballplatzes im Hof sagt eine andere: „Ich spreche den Namen Outreau nicht mehr aus. Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, antworte ich: aus der Region Boulogne.“