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Ein Staatsakt voll Erotik und Gewalt

Die Trauerfeier für Willy Brandt: So viel dumme Bundeswehrgesichter hat er nicht verdient/ Kein Christdemokrat erwähnt den Streit um seine Ostpolitik/ Das Volk muß mit Kopfhörer im Ohr trauern  ■ Aus Berlin Ute Scheub

„Die Unvollendete“. Die letzten Töne von Franz Schuberts 7. Sinfonie, Erster Satz, haben sich in die Höhen des Reichstags verflüchtigt und Stille hinterlassen. Blumen stehen Spalier. Der Bundesadler wacht. Die Blicke fallen auf den schwarzrotgoldbedeckten Sarg Willy Brandts. Der Bundespräsident, silberlockig auf schwarz, schreitet zum Redepult und spricht wichtige Sätze, die wenig später aus den internationalen Nachrichtenagenturen rattern. „Er war ein Versöhner der Deutschen mit sich selbst“, sagt Richard von Weizsäcker. Nun, da diese „geschichtliche Gestalt unseres Jahrhunderts“ tot ist, haben sich auch alle Deutschen mit dem vaterlandslosen Gesellen von einst versöhnt: die Christdemokraten, die Bundeswehrführer, die politischen Revanchistenkommandos von früher. Vier der sechs Trauerredner, die im Reichstag zu Berlin das hohe Lob des Verstorbenen schmettern, gehören der CDU an und haben dennoch konsequent verdrängt, wie heftig ihre Partei in den Zeiten der Ostverträge den Verräter, Versöhnler, den Ausverkäufer Deutschlands attackierte.

Im Wort Versöhnung stecken die Söhne. Dazu paßt, daß in dieser Männerwelt voll Krieg und Frieden Frauen kaum mehr als eine Fußnote sind und sich untereinander zur Fußnote der Fußnote machen: Brigitte Seebacher-Brandt, direkt neben dem Bundespräsidenten und in der Runde der 1.600 Ehrengäste, hat sich verbeten, daß die Mutter der drei Brandt-Söhne ebenfalls kommen darf.

Während die innig verfeindeten Frauen sich in doppeltem Sinne außerstande sehen, sich zu versöhnen, sind es dies eine Mal und ausnahmsweise die Männer, die, wohl im Angesicht des Todes, der alles vereint und Gefühle gleichzeitig ungefährlich macht, von Liebe sich zu sprechen trauen, von Wärme, von geradezu erotischer Ausstrahlung. Sie alle haben den besten, engsten, den überzeugendsten aller Freunde verloren. Helmut Kohl hat sich so oft „guten Rat“ von ihm geholt, und Eberhard Diepgen hat ihm „viel Rat zu verdanken“. „Wir wollen uns mühen, daß es ohne ihn nicht wieder kälter werde, nach innen und außen“, spricht der Bundespräsident. Von Brandts „besonderer Zuneigung, ja seiner Liebe“ zu Berlin weiß der Bundeskanzler zu berichten. Der Vorsitzende der SPD lobt „seine Fähigkeit zu integrieren – seine Art zuzuhören, zu reden, seine Stimme und seine Gesten –, all das lud ein, war anziehend und voller Ausstrahlung“. Um „querido Willy“, den geliebten Willy, trauert der spanische Regierungschef in der emotionalsten aller Ansprachen. „Ein Zeugnis der Solidarität und der Hingabe“ sei dieser Freund gewesen, seine „Zuneigung, menschliche Wärme und Ermutigung“ werde er schmerzlich vermissen. „Adiós Willy, lieber Freund, dein Leben ist Teil der Geschichte Deutschlands und Europas.“

Der Unvollendete. Der Sinfonie zweiter Satz, gespielt von den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Claudio Abbado. Das Volk draußen vor der Tür kann sie trotz anderslautender Versprechungen auf eine großformatige Direktübertragung nicht hören. Vieltausendköpfig steht es hinter den polizeilichen Absperrgittern, den Blick auf das Hauptportal des Reichstags gerichtet und seine heute noch arroganter aus dem Steingrau lachende Parole „Dem deutschen Volke“. Sanft nicken einige rote SPD-Fähnlein der Portalstreppe zu. Die Bundeswehrkadetten, die dort der Menge ihre uniformierten Hintern zugewendet haben, sind nun zugunsten einer Ehrenformation in Grün abgetreten. Wer etwas hören will vom großen Ereignis, muß sich den Knopf eines Transistorradios ins Ohr stecken, so er einen hat, und Dutzende von Mithörern um sich dulden. Es flucht das Volk, es flucht die Presse. Keine Übersetzung der Reden, keine Gästeliste, keine Zuständigen zu finden, dafür aber massenhaft Pannen. Die militärische Ordnung auf dem Platz vor dem Reichstag soll wohl nur verstecken, daß das deutsche Organisationstalent heute so gründlich wie selten versagt hat. Aber was tut es, im Tode vereint sind alle Widersprüche.

Aaaachtttung! Präsentiert dasss Gewehrrrr! Ein Führer, ein Wille, eine Bewegung. Mehrere hundert Soldaten des Bundeswehr-Wachbataillons rühren sich klappernd. Langsamer Trommelwirbel. Die Sargträger schreiten die Stufen des Reichstags hinab. Unbewegt stehen die V-Formationen der Polizei. Augen gerrrade-aus! Das Gewehrr – ab! „Was Gott tut, das ist wohlgetan“, blasen die Trompeter des Stabsmusikkorps. Händel hat's mit seinem Trauerchoral bestimmt nicht so gemeint, für das Volker- Rühe-Orchestra wurde er jedenfalls nicht geschrieben. Diese dummen Bundeswehrgesichter unter grauen Helmen hat er nicht verdient, der Willy. Oder ehrt man auf diese Weise einen Friedensnobelpreisträger?

Er wollte es so, heißt es. Er, der Uneheliche, der Oppositionelle, der Ausgebürgerte, wollte diese letzte und endgültige Ehrenrettung. Rehabilitation für immer und ewig. Viele in der linken Ecke haben ihm das übelgenommen: daß er im letzten Moment eben immer doch strammstand für den Staat und den Staat strammstehen ließ für sich. Das war das Unvollendete an dieser historischen Figur: aufzurufen zum „Mehr Demokratie wagen“ und dann die Berufsverbote zu unterstützen, Frieden und Abrüstung zu predigen und doch eben doch mehr und mehr Raketen ins Land zu holen. Aaaachtung! Das Gewehrr – rrührren!

Denn jetzt zeigt sich das Ergebnis der Politik der vergangenen Jahrzehnte auf der Portalstreppe: abgesetzte und noch regierende Staatsmänner, gekrönte und ungekrönte Häupter. Der Ex-Generalsekretär Michail Gorbatschow neben dem Ex-Dissidenten Lew Kopelew; der Umweltschützer Prinz Charles neben dem Daimler-Chef Edzard Reuter und – quel malheur – ohne Lady Di; der UN-Generalsekretär Butros Ghali neben ANC-Schatzmeister Thomas Nkobi; der israelische Regierungschef Schimon Perez neben seinem Namensvetter und Amtskollegen Carlos Pérez aus Venezuela. Ihm jubelt die für jede menschliche Geste dankbare Menschenmenge besonders heftig zu, als er mit Küßchen auf die Wange eine Dame verabschiedet.

Trommelwirbel. Nationalhymne. Ein junger Bursche in den Reihen der Zuschauer reißt den Arm hoch, führt die Hand zum militärischen Gruß an die Stirn. Im Tode vereint ruhen die Widersprüche. „Deutscher bis ins Mark“ sei sein Freund gewesen, hat Felipe González gesagt. Aber auch: „Europäer aus Überzeugung, Weltbürger aus Berufung.“ Graugesichtige Offiziere, einer mit einem Schnurrbart von Bismarckschen Ausmaßen, schieben den Sarg in den Leichenwagen. Die Zeremonie bleibt nicht ohne Blumenverlust, denn Soldatenhände sind ungeschickt. Geköpfte rote Nelken trauern auf deutschem Straßenpflaster. „MUSS“ steht auf dem silbergrauen Wagen: ein passender Name für ein Bestattungsunternehmen.

Das Unvollendete. Der dritte Satz von Schuberts Sinfonie liegt nur im Entwurf vor, er bleibt ungespielt. Ein Scherzo. Die deutsche und die europäische Einheit – ein schlechter Scherz? Das, was zusammenwachsen sollte, bleibt getrennt oder spaltet sich aufs neue. Der Tote hat es wohl geahnt, Rita Süssmuth erwähnte in ihrer Ansprache seinen Wunsch, er wolle „den Tag sehen, an dem Europa eins geworden ist“.

Mit dem toten Brandt werden die Widersprüche beerdigt, an diesem Tag stehen Ost- und Westberliner, Deutsche und Ausländer friedlich weinend zusammen. Zwischen 15.000 und 20.000 Menschen waren schon am Vortage an dem aufgebahrten Toten in seinem ehemaligen Amtssitz im Rathaus Schöneberg vorbeidefiliert, hatten ihm Herzen und Rosen zugeworfen und die Hausmeister zu Überstunden gezwungen. Jetzt stehen sie wieder zu Tausenden vor dem Reichstag und an den Straßen. Dazu die die zweitausend, die seit Stunden unter kalten Bäumen auf dem Waldfriedhof Zehlendorf warten, um an der „Beisetzung im engsten Familienkreis“ teilzuhaben. Vierzig geladene Gäste folgen dem Sarg durch das Ehrenspalier der Polizei, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Johannes Mario Simmel, der ehemalige Bremer Bürgermeister Hans Koschnick stützt die Witwe. Willy Brandt findet seinen letzten Platz neben Ernst Reuter.

Ein Tag später, am Sonntag, ist das Grab bereits zur Pilgerstätte geworden. Hunderte häufen Nelken auf Rosen und wischen verstohlen Tränen ab. „Man hat sich bemüht“ – diesen Spruch auf dem Grabstein hat Willy Brandt, das Unvollendete ahnend, sich selbst gewünscht.

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