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Archiv-Artikel

Ein Schnitt fürs Leben

Laut WHO sollen Frauen auf keinen Fall weiter beschnitten werden, dafür aber die Männer erst recht unters Messer. Die Beschneidung des Mannes, eine wechselvolle Kulturgeschichte

VON MARTIN REICHERT

Ganz egal, was genommen wird, ob ein ägyptisches Steinmesser, der scharf geschliffene Fingernagel eines jüdischen Mohels, ein rostiges Barbiermesser oder ein Edelstahlskalpell: Das Zipfelchen muss ab. Die Vorhaut, das Schniedelhütchen, das Präputium – für die einen ein überflüssiges, Ekel verursachendes Stückchen Haut, für die anderen integraler Bestandteil der männlichen Persönlichkeit, schützend und lustspendend. Ein Stück Haut, das die Menschheit umtreibt, ein Thema, bei dem fast alle Menschen – gleich welchen Geschlechts – irgendwie Betroffene sind, sei es aus Gründen des Geschmacks oder weil sie beschnitten oder eben nicht beschnitten sind. Und um das sich neuerdings auch die WHO kümmert: Sie kämpft gegen die Beschneidung von Frauen und für die Beschneidung von Männern.

Glaubt man der durchaus wirkmächtigen Weltgesundheitsorganisation, hat sich die leidige Diskussion um die männliche Beschneidung erledigt: Neueste Studien haben schon früher angestellte Vermutungen bestätigt, dass es einen Zusammenhang zwischen männlicher Beschneidung und einem geringeren HIV-Infektionsrisiko gibt. Der Leiter des HIV-Programms der WHO, Kevin de Cock (sic!), verwies am Ende der diesjährigen Welt-Aids-Konferenz in Toronto auf zwei vielversprechende Studien aus Uganda und Kenia, die im kommenden Jahr fertiggestellt sein sollen. Zuvor hatte eine bereits im letzten Jahr abgeschlossene Untersuchung aus Südafrika aufsehenerregende Ergebnisse erbracht: Die Beschneidung hatte das Infektionsrisiko der Männer um 60 Prozent reduziert, nach 18 Monaten hatten sich nur 20 beschnittene, aber 49 unbeschnittene Männer angesteckt.

Warum der Eingriff schützt, ist allerdings noch nicht eindeutig geklärt; es wird vermutet, dass die Zellen an der Oberfläche der Eichel ohne Vorhaut verdicken, eine Art Hornhaut bilden und so einen besseren Schutz vor dem Eindringen der Viren bieten. Simpler erscheint die Deutung, dass der Penis so nach dem Geschlechtsverkehr schneller „trocknet“, was die Überlebensfähigkeit des luftempfindlichen Virus mindert; andere Tests haben ergeben, dass sich die HI-Viren in den Blutzellen der Vorhaut – den sogenannten Langerhanszellen – anreichern. Allerdings räumt auch die WHO ein, dass eine Beschneidung einen bei weitem nicht ausreichenden Schutz vor HIV bietet; die Männer könnten sich trotzdem weiter anstecken – Massenbeschneidungen wären nicht dazu geeignet, ein „umfassendes HIV-Präventionspaket“ zu ersetzen. Ganz zu schweigen von der Gewährleistung medizinisch einwandfreier Umsetzung solcher Operationen unter vor Ort heiklen Bedingungen – in Südafrika etwa sterben regelmäßig Jungen an den Folgen der dort mancherorts üblichen rituellen Beschneidung.

Jede OP stellt ein Risiko dar, so auch die männliche Beschneidung, wie der jüngste Fall aus Hamburg zeigt: Ein Junge war dort vor wenigen Wochen aufgrund eines Anästhesiefehlers gestorben; Grund der OP: eine vermeintlich routinierte Beschneidung. Die sich im Internet und in Betroffenengruppen seit langem formierende Front der Beschneidungsgegner – von Nocirc bis Mothers against Circumcision – vertritt denn auch die Ansicht, dass mit dem Eingriff im Kindesalter nicht nur das Membrum virile, sondern auch das individuelle Menschenrecht beschnitten werde. Ein Baby oder Kleinkind kann schließlich nicht entscheiden, ob es eine Zirkumzision möchte oder nicht; hinzu kommt, dass auch die männliche Beschneidung oft unter brachialen Bedingungen vorgenommen wird, und dies nicht nur in der arabischen Provinz, wo Jungen schon mal zum Barbier geschickt werden, ohne dass sie ahnen, dass dieser es nicht nur auf ihr Haupthaar abgesehen hat. Auch in den USA wird rund die Hälfte aller Beschneidungen noch immer ohne Betäubung vorgenommen – obwohl längst als erwiesen gilt, dass auch Klein- und Kleinstkinder erlittene Schmerzerfahrungen speichern. Eine Steilvorlage für die Beschneidungsgegner, die schon lange damit argumentieren, dass es gar keinen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Genitalverstümmelung gebe – ein vordergründig vor allem schrilles, manchem Beobachter zynisch erscheinendes Argument, spricht doch unter anderem die WHO in Bezug auf die weibliche Genitalverstümmelung von der „schlimmsten Form von Gewaltanwendung“.

Bezüglich der blutigen Manipulation des männlichen Genitales scheint jedoch zu gelten: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Jungen – als Anwärter auf die unter starkem Generalverdacht stehende Rolle als Mann – werden ungern als Opfer gedacht, weder von Frauen noch von Männern. Wird jedoch bei der Beschneidung das Frenulum entfernt, jenes schmale Bändchen, das die Vorhaut mit der Eichel verbindet, kann man auch hier durchaus von „Genitalverstümmelung“ sprechen: Das Frenulum bildet das männliche Lustzentrum und ist somit der Klitoris vergleichbar. Auch bei weniger radikalen Beschneidungsformen wird meist ein großer Teil der sogenannten Meissner’schen Tastkörper entfernt, die sich im vorderen Drittel der Vorhaut befinden und von zentraler Bedeutung für die Sensibilität des Organs sind. Kombiniert mit der „Verhornung“ bzw. „Keratinisierung“ der Eichel ergibt sich so eine komplett veränderte Sensorik: eine Desensibilisierung – die wiederum den Mythos vom sexuell leistungsfähigeren, weil „ausdauernderen“ beschnittenen Mann begründet. Angeblich nämlich „können“ Beschnittene länger – wahr oder bloß Behauptung, um einen erlittenen Verlust besser in die Biografie zu integrieren (siehe auch Seite 3)? Die wenigsten beschnittenen Männer beklagen sich – jedenfalls tun sie es nicht öffentlich. Und falls es doch zu einer Debatte kommt, verteidigt in der Regel jeder, je nach Beschaffenheit, den eigenen Status quo.

Hinzu kommt allerdings, dass es sich bei der männlichen Beschneidung im Kern um ein religiös aufgeladenes Initiationsritual handelt – so argumentieren zumindest die Beschneidungsgegner: Kleine Jungen würden auf dem religiösen Altar ihrer Eltern geopfert, die Beschneidung sei nichts weiter als ein kulturell motiviertes, archaisches und wissenschaftlich kostümiertes Anliegen. Psychologen stellen sogar einen Zusammenhang zwischen der hohen Kriminalitätsrate in den USA und männlicher Beschneidung her, etwa Ronald Goldman in seinem Buch „Circumcision – The Hidden Trauma“. Von lebensbedrohlichen Schmerzschocks wird berichtet, gar vom frühkindlichen Verlust der persönlichen Autonomie.

Die Gegenseite argumentiert in der Tat gern mit kühl wirkenden Argumenten: solchen der Gesundheit und der Hygiene. Wenngleich auch hier, besonders in Bezug auf die Hygiene, durchaus auf Gräuelpropaganda zurückgegriffen wird. Das Zauberwort lautet „Smegma“. Jene weiße bis gelbliche Substanz, die sich zwischen Vorhaut und Eichel aus Talg, abgestorbenen Hautzellen sowie Urin- und Spermarückständen bildet, wird zu einer ekelerregenden, bestialisch stinkenden Paste des Grauens stilisiert, die auch noch im Verdacht steht, für die Entstehung von Gebärmutterhalskrebs bei Frauen verantwortlich zu sein. Ein Zusammenhang, der ins „Allgemeinwissen“ eingesickert ist, ohne bewiesen zu sein.

Bei einer Phimose, einer Vorhautverengung, wird Smegma allerdings definitiv zum Problem und verursacht neben unangenehmem Geruch auch Entzündungen, womöglich gar Peniskarzinome. Die Phimose ist denn auch die einzige Indikation, die eine kassenfinanzierte Entfernung der Vorhaut ermöglicht – ansonsten hilft gegen die schlimme Substanz vor allem eins: Waschen mit Wasser und Seife, was im Übrigen – in der Debatte gerne unterschlagen – auch für Frauen gilt. Zwischen den äußeren und inneren Schamlippen sowie der Klitoris bildet sich bei mangelnder Hygiene, oh Graus: Smegma.

Für die männliche Beschneidung gibt es ein ganzes Bündel von Begründungen, seien sie medizinisch, religiös, rituell, kosmetisch, ästhetisch oder hygienisch. Am wirkmächtigsten ist in der westlichen Welt noch immer das Hygieneargument. Auf Pro-Beschneidungs-Websites preisen Janets aus Wisconsin und Mary Anns aus dem Bible Belt „den prächtigen, prallen und so unglaublich sauberen Schwanz“ ihres just beschnittenen Gatten – in den USA besteht manche Verlobte vor der Hochzeit auf der Beschneidung des zukünftigen Gemahls. Der moderne angloamerikanische Beschneidungsdiskurs fußt jedoch auf einer völlig anderen Grundlage: der Sexualkontrolle.

Bereits im 18. Jahrhundert empfahl der Schweizer Arzt Dr. Samuel Tissot die Beschneidung als Kur gegen Masturbation, die er nicht nur als Ursache jugendlicher Rebellion, sondern auch von Hysterie und Neurosen ansah. Die Krankheit Onania galt es mit allen Mitteln zu bekämpfen, sei es mit Hilfe abenteuerlichster Apparaturen oder eben der Beschneidung. Eine Idee, die vor allem in der britischen Oberschicht breiten Widerhall fand – bis heute übrigens – und sich über das Commonwealth verbreitete. In den puritanisch geprägten USA fiel die Idee schließlich auf fruchtbarsten Boden, etliche Publikationen priesen dort ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Beschneidung als probates Mittel der Triebkontrolle. So schrieb der Arzt Athol A. W. Johnson 1860 in einem medizinischen Fachblatt: „In Fällen von Masturbation müssen wir, wie ich glaube, die Angewohnheit brechen, indem wir die betreffenden Körperteile in einen solchen Zustand bringen, dass es zu viel Mühe macht, mit der Praktik fortzufahren. Zu diesem Zweck, falls die Vorhaut lang ist, können wir den Patienten beschneiden. Auch sollte die Operation nicht unter Chloroform vorgenommen werden, sodass der erlittene Schmerz mit der Angewohnheit, die wir auszurotten wünschen, in Verbindung gebracht werden kann.“ In der Tat gestaltet sich die Masturbation nach einer Entfernung der Vorhaut oft schwieriger, manchmal kann sie nur noch unter Zuhilfenahme von Gleitflüssigkeiten bewerkstelligt werden.

Bis heute geht etwa die Hälfte der amerikanischen Jungen nach der Geburt ihrer Vorhaut verlustig, argumentiert wird jedoch nicht mehr autoritär-moralisch, sondern hygienisch-medizinisch. Der Diskurs hat sich verschoben, das tradierte Handlungsmuster bleibt – auch wenn sich Widerstand regt.

Auf seiner Homepage www.rick randy.com beschwert sich „Beschneidungsopfer“ Rick, dass es in manchen Gegenden der USA zwar verboten sei, sich vor Erreichen der Volljährigkeit piercen oder tätowieren zu lassen, eine extreme Körpermanipulation wie die Beschneidung jedoch ohne Einwilligung des Kindes geduldet werde. Mittels opulenter Bebilderung demonstriert er den Langzeitversuch, seine Vorhaut mit Hilfe von Klebeband und Stoffumwicklung zumindest teilweise wiederherzustellen – auch für Freunde der sogenannten Restoration gibt es mittlerweile Selbsthilfegruppen.

Gleichwohl gibt es auch einen Gegentrend hin zur Beschneidung, der in Modezeitschriften und Boulevardzeitungen zum Gegenstand ausgiebiger Diskussion gemacht wird, ähnlich der Frage, ob man nun harte oder weiche Kontaktlinsen bevorzugt, Brustbehaarung oder Rasur. Beim Friseur werden nun bereits die Techniken debattiert: High & Tight, und High & Loose, oder doch lieber Low & Tight?

Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker ordnet diese modische Tendenz schlicht in den Bereich der Körpermanipulationen ein – die Beschneidung als Teil des Körperdesigns, passend zur aktuellen Tätowierung oder um das „Prince-Albert-Piercing“ (einen Ring durch die Eichel) besser zur Geltung zu bringen. Laut Dannecker steht dies im Zusammenhang mit dem vorherrschenden Bild eines „perfekten Penis“, dem es nachzueifern gelte: ein Bild, das vornehmlich durch kalifornische Pornoproduktionen erzeugt werde. In diesen sind die männlichen Hauptdarsteller in der Regel nicht nur überdurchschnittlich ausgestattet, sondern auch beschnitten. Umgekehrt gelten europäische Pornoproduktionen mit „Uncut“-Darstellern in den USA übrigens als exotische Delikatesse.

Für deutsche Verhältnisse ist diese eher ästhetisch unterfütterte Debatte insofern ein Fortschritt, als sie endlich überkommene Vorstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu überwinden scheint. Der beschnittene Penis galt den Nazis als „undeutsch“, in bewusster, antisemitisch motivierter Abgrenzung von den aus religiösen Gründen beschnittenen Juden. Ein gezielter Akt des „Othering“ – für Sigmund Freud sogar ein Ergebnis von Kastrationsangst: Er erklärte den Antisemitismus unter anderem mit einer unbewussten Angst vor Beschneidung, ausgelöst durch das Wissen um die generelle Beschneidung bei den Juden – und zusätzlich aufgeladen durch das Phantasma, dass der jüdische Mann über eine überdurchschnittliche Potenz verfüge, die unter anderem auf seine „undeutsche“ Beschneidung zurückzuführen sei.

Der sichtbar beschnittene Penis konnte während des Nationalsozialismus zu einem lebensgefährlichen Stigma werden – anschaulich dargestellt in dem Film „Der Hitlerjunge Salomon“, dessen Protagonist ständig Gefahr läuft, aufgrund seiner Beschneidung als Jude erkannt zu werden. Mancher Arzt äußert sogar die Vermutung, dass sich viele deutsche Phimose-Betroffene aufgrund dieses internalisierten Stereotyps einer OP entziehen – zumindest unbewusst. Eine ablehnende Haltung, die lange Zeit nicht einmal der wirkmächtige US-Hygiene-Diskurs zu überlagern vermochte. Glaubt man den landläufigen Einschätzungen, ist der Anteil der beschnittenen Männer in Nachkriegsdeutschland nie über 5 bis 15 Prozent gekommen.

Verfolgt man die Geschichte der Beschneidung bis zu ihren Ursprüngen, landet man in der Tat bei Vater Abraham, dem ersten beschnittenen Mann. Nach der Bibel (Gen. 17, 10–14) wurde die Beschneidung unter den Israeliten von Stammvater Abraham eingeführt, dessen Lebenszeit meist auf 1800 bis 1600 vor Christus datiert wird; neuere Forschungen gehen davon aus, dass die Beschneidung erst unter Moses, also während der babylonischen Gefangenschaft, eingeführt wurde – eine Umritualisierung der ägyptischen Methode, Sklaven zu kennzeichnen. Wie auch immer: Die „Milah“ am achten Tag nach der Geburt wurde zur Pflicht. Und zum symbolischen Ausdruck des Bundes mit Gott.

Das Christentum, jene sektiererische Abspaltung des Judentums, grenzte sich später von dieser jüdischen Praxis ab, um Differenz herzustellen; schon Paulus von Tarsus propagierte: „Wer glaubt, durch die Beschneidung heilig zu werden, ist auf dem Irrweg.“ Die weltweit schätzungsweise 400 Millionen muslimischen Männer verdanken ihren beschnittenen Penis hingegen – wenn die Überlieferung stimmt – dem Umstand, dass Mohammed ohne beziehungsweise mit verkürzter Vorhaut auf die Welt gekommen sein soll. Die Beschneidung wird zwar im Koran nicht erwähnt, ist aber in der Sunna beschrieben, heute ein wichtiger Bestandteil des Islam und wurde zu einem wesentlichen Baustein kultureller Identität. Im „gesunden Volksempfinden“ hat sich jedenfalls in Bezug auf die Beschneidung der Juden wie auch auf die der Muslime eine Deutung in der Tradition des Gesundheits- und Hygienediskurses durchgesetzt: Angesichts der Wasserknappheit und der Hitze in der Region des Nahen Ostens sei es – Robert Kochs bakteriologische Erkenntnisse quasi weit vorwegnehmend – eine gesundheits- und bevölkerungspolitisch kluge Idee gewesen, den Männern die Beschneidung abzufordern.

Auch in vielen anderen Kulturen finden sich Formen der Beschneidung; es handelt sich fast immer um Initiationsrituale, in denen eine bewusste Krisensituation herbeigeführt wird, um Männlichkeit herzustellen. Auch das Motiv der Sexualitätskontrolle ist durchweg von Bedeutung – eine spielverderberisch anmutende Desensibilisierung, die zugleich die überlebensnotwendige Fruchtbarkeit nicht einschränkt. Und natürlich ist im Rahmen all dieser religiösen Auseinandersetzungen noch niemand auf die Idee gekommen, dass sich der intelligent designer namens Gott vielleicht etwas dabei gedacht haben könnte, als er dem Penis ein Hütchen aufsetzte: Entwurfstechnisch betrachtet, ist die Vorhaut ganz einfach ein Stück Zusatzhaut, das den Größenunterschied zwischen erschlafftem und erigiertem Penis ausgleicht.

Die Technik der Beschneidung kann ihre autoritär-religiös-moralischen Wurzeln kaum verleugnen – und scheint doch auf dem Vormarsch. Ähnlich wie im Falle des Rauchens könnte sich das Gesundheitsargument als äußerst schlagkräftig erweisen, wenn es darum geht, konservativen, prohibitiven Interessen einen Wiedereintritt durch die Hintertür zu ermöglichen. Der so gern „schnackselnde“ Afrikaner (Fürstin Gloria von Thurn und Taxis) wird demnächst womöglich zwangsbeschnitten, anstatt endlich Zugang zu den seit zehn Jahren verfügbaren, lebensrettenden Aidsmedikamenten zu bekommen.

Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker jedenfalls nimmt die aktuellen WHO-Studien durchaus ernst. Und äußert dennoch Bedenken: Zunächst sei es immer ein Problem, Menschen kulturfremde Praktiken empfehlen zu wollen. „Doch darüber hinaus bietet eine solche Beschneidung – trotz der überraschenden Ergebnisse der Studien – keinen dauerhaften und sicheren Schutz vor HIV. Im Gegenteil könnte sich eine solche Maßnahme eher kontraproduktiv auswirken, indem sie Präventionsarbeit noch weiter gefährdet.“

Bezüglich des Menschenrechts auf Vorhaut ist Schweden federführend: Bereits Anfang 2001 trat in Schweden ein neues Gesetz in Kraft, das Beschneidungen ohne medizinische Begründung bei Jungen, die älter als zwei Monate sind, generell verbietet. Beschneidungen an jüngeren Babys dürfen nur noch unter Betäubung vorgenommen werden – Schweden ist damit das erste Land, das die rituelle Beschneidungen zumindest einschränkt. In Finnland wiederum gelangte man Ende der Neunzigerjahre zu der Erkenntnis, dass die Gesellschaft nicht nur die religiösen Rechte der Eltern achten müsse, sondern auch eine Verpflichtung gegenüber dem leiblichen Wohl der noch unmündigen Kinder habe: Wird in Finnland ein Kind beschnitten, ist seitdem das Einverständnis beider Elternteile Voraussetzung – eine vergleichsweise moderate Einschränkung.

In Deutschland werden Beschneidungen nur dann von den Krankenkassen finanziert, wenn eine Indikation vorliegt, meist eine Vorhautverengung. Sowohl Indikationen als auch Kontraindikationen sind in der „Phimose-Richtlinie“ der Deutschen Gesellschaft für Urologie verbindlich festgelegt – in der Praxis gibt es allerdings Spielräume. Der Urologe Jan F., im klinischen Bereich in Berlin tätig, erzählt aus der Praxis: „Wenn hier ein junger Mann kommt und sagt, dass er beschnitten werden möchte, weil er Schmerzen beim Geschlechtsverkehr hat, dann fordern wir natürlich keine Beweis-Erektion ein. Die Diagnose lautet dann eben ‚relative Phimose‘.“ Auch wenn der Grund der Beschneidung eher ästhetischer Natur ist.

Rituelle bzw. religiös motivierte Beschneidungen von Jungen werden geduldet, man ist eher froh darüber, wenn zum Beispiel in Deutschland lebende Muslime ihre Söhne ins Krankenhaus bringen, statt die Zirkumzision im Kreise der Familie vorzunehmen – bei sogenannten Küchentischoperationen ist das Risiko von Komplikationen hoch, selbst im Krankenhausbereich beträgt die Komplikationsrate immerhin noch 1,4 bis 3 Prozent. Jan F. hat in seiner bisherigen Beschneidungspraxis keinen Horror erlebt: „Die Kinder verkraften das ziemlich gut, natürlich bekommen sie eine Vollnarkose, zusätzlich kann man eine Peniswurzelblockade vornehmen, die hält auch noch eine Weile nach der OP vor.“

Womöglich springt nun demnächst auch noch der Papst auf den fahrenden Zug: Besser eine eigentlich unchristliche Beschneidung als teuflische Kondome. Im Vatikan kennt man sich mit Vorhäuten ohnehin aus: Die „Heilige Vorhaut“ des Jesus von Nazareth, der, von Geburt Jude, selbstverständlich beschnitten war, wird als einziger nach der Himmelfahrt auf Erden verbliebene Teil des Erlösers als Reliquie verehrt, an über sieben Orten zugleich. Früher beging man am 1. Januar sogar einen Gedenktag für die Heilige Vorhaut – mittlerweile spielt der Vatikan das Interesse an dieser Reliquie herunter. Begründung: Das Thema wecke nur „unverschämte Neugier“.

Eigentlich geht es ja auch niemanden etwas an, wie Mann untenrum so beschaffen ist – für einen weltweiten Glaubenskrieg reicht es jedoch allemal. So unbedeutend ist der „kleine Zipfel“ – oder eben der „kleine Unterschied“ – dann wohl doch nicht.

MARTIN REICHERT, 33, ist taz-Autor. Sein letztes Zirkumzisions-Erlebnis hatte er im Istanbuler Topkapi-Palast: ein mulmiges Gefühl beim Betreten des Beschneidungszimmers