: „Ein Schatten, der zu meinem Leben gehört“
■ Neue taz-Serie „Grenzgänger“, Teil 1: Der Hamburger Aidspastor Rainer Jarchow über das Abschiednehmen von Todkranken Von Silke Mertins
„Es verändert sich unendlich viel, wenn der Mensch, der eben noch lebte, plötzlich nicht mehr da ist.“ Rainer Jarchow hat das schon sehr oft erlebt. Seit fast zehn Jahren ist er aidspolitisch aktiv, seit April vergangenen Jahres arbeitet er als Aidspastor in Hamburg, berät HIV-Infizierte und betreut Aidserkrankte. 1000 Menschen sind in der Hansestadt schon an der Immunschwäche gestorben. Von jedem Aidstod sind zehn weitere Männer und Frauen betroffen; Lebenspartner, Eltern, Geschwister, FreundInnen.
Mit Sterbenden und Tod, Angst und der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt sich Rainer Jarchow an jedem Tag seiner selbstgewählten und -gewollten Sieben-Tage-Woche. Berufliches und Privates zu trennen „ist gar nicht möglich“. Denn „ich kann gar nicht sagen, außerhalb meiner Arbeitszeit will ich mit Aids nichts zu tun haben. Denn viele meiner Freunde sind betroffen, und das hieße, mich von ihnen abzuwenden. Es gibt einen Schatten, der zu meinem Leben gehört, und das ist kein beruflicher Schatten“.
Jarchow ist kein Pastor, der sich allein aus christlich-sozialem Engagement um Menschen kümmert, die zufällig in seiner Gemeinde erkrankt sind. Anfang der 80er hat der Kirchenmann, der auch mal Pastor in St. Georg war, seinen Talar an den Nagel gehängt, um sich schwulenpolitisch zu engagieren. „Schon 1982 hörten wir von der Situation in den USA und wollten – vorhersehend, daß es auch in Deutschland Aids geben würde – verhindern, daß die schwulenfeindlichen Reaktionen auf Aids sich hier wiederholten.“ So wurde er Mitbegründer der Deutschen Aidshilfe und der erste Aidsberater beim Gesundheitsamt Köln. „Im Unterschied zu anderen, die sich im psychosozialen Bereich mit Aids beschäftigen, war es bei mir nicht die persönliche Betroffenheit. Ich war nicht selber infiziert und kannte damals auch keine, die es waren. Es war das schwulen- und sozialpolitische Interesse, das mein Engagement begründete.“
Das „S“ in Aids bedeutet nicht nur für die Krankheit „Syndrom“ – also verschiedenste Symptome. Für Jarchow trifft „Syndrom“ auch auf die gesellschaftspolitischen Reaktionen zu: die Doppelmoral, die Benachteiligung, die Randgruppensituation, der Umgang mit Sexualität und mit dem Tod.
Als die Stelle eines Aidspastors in Hamburg geschaffen wurde, sah er seine Chance gekommen, politische Prioritäten mit kirchlicher Arbeit zu verbinden. „Das war ein Traum von mir, der biographisch Sinn macht: Back to the Roots.“ Zwar war Rainer Jarchow nicht im Streit mit der Kirche geschieden, doch er war wie viele andere Schwule „wütend und enttäuscht, daß sich die Kirche so indifferent zu Aids verhält“. Dabei sind „gerade aidskranke Menschen, die sich – bei aller Unterschiedlichkeit – sehr intensiv mit dem eigenen Sterben und Tod auseinandersetzen“.
Aber ist Kirche als Ansprechpartnerin überhaupt gewollt? „Häufig gibt es ganz viel Verletzung durch Kirche, aber auch eine große Sehnsucht nach ihr“, sagt Jarchow und erzählt ein Beispiel: Einem aidskranken Freund versprach er , ihm seine Trauerfeier auszurichten. „Als ich ihm sagte, ich könnte es jetzt auch als Pastor machen, strahlte er. Dann erzählte er mir, was Gott in letzter Zeit für ihn bedeutet hat. Das hat mich sehr überrascht und auch sehr bewegt.“ Einen Sterbenden zu begleiten, wird durch die Erfahrung nicht leichter. „Auch ich bin nicht angstfrei.“ Der Abschied, „wenn ich weiß, daß ich jemanden zum letzten Mal sehe“, ist jedes Mal schmerzlich und unbegreiflich.
Arbeit in der Grauzone, dem größten Tabu der von Leben und Jungsein besessenen Zivilisationsgesellschaft, stößt immer wieder an Grenzen. „Sterbebegleitung ist immer eine sehr einsame Sache, denn da muß man ganz alleine durch. Das ist die Einsamkeit des Grenzgängers.“ Andererseits aber „kommen mir immer wieder Menschen sehr nahe, seien es Kranke und Sterbende oder ihre Lebenspartner und Angehörigen“.
Manchmal hält Rainer Jarchow einem Sterbenden nur die Hand, manchmal finden lange Gespräche über die Ängste und das quälende Warten statt. Und dann wieder, kann man gar nichts sagen. „Es ist wichtig, die eigenen Grenzen anzuerkennen: Sprachlosigkeit und Ohnmacht. Da hilft es nichts, einfach zu plappern. Man muß akzeptieren, manchmal sprachlos zu sein und weinen zu müssen.“
Deswegen möchte ein Sterbender trotzdem keine Grabesstimmung und Trauerminen um sich herum; es darf auch Alltäglich-banales besprochen und vor allem gelacht werden. „Wenn jemand gestorben ist, fragen wir uns hinterher sehr häufig, woran erinnern wir uns. Und dann kommt ganz oft: an sein Lachen.“
2. Teil: „Allein unter Nilpferden“ am Freitag, den 28. Juli
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