■ Ein Reiseführer durch Bremens Moore: Auf ins Null-Becquerel-Land
Es gibt Bücher, die kann man durchstöbern wie früher Omas Schmuckschatulle. Unglaublich, was daraus hervorquillt. Das just im Temmen-Verlag erschienene „Reise- und Lesebuch: Im Land der Moore und Deiche“ ist so ein Sammelsurium. Füllig und verlockend hat es nicht nur das glatte Papier eines handlichen Reise-Dumont, sondern auch was von seinem Inhalt – obwohl Kapitel wie „Gute Reise“, „Kleine Landeskunde“ und „Reisen und Ausflüge“ auf den ersten Blick nicht viel verprechen. Man fragt sich auch sofort: 350 Seiten über Delmenhorst, Hude, Rotenburg, Zeven, Verden – die Reiterstadt und so weiter, wie soll das gehen? Sind das schließlich nicht Unorte, von denen man nur einen gesehen haben muß, um sie alle zu kennen, mit ihrer zentralen Volksbank, der demnächst schließenden Postfiliale und der obligatorischen Telefonzelle irgendwo?
Vielleicht ist das Büchlein deshalb so reichhaltig ausgefallen, weil die HerausgeberInnen selbst vor ähnlichen Fragen standen, als sie die Arbeit aufnahmen – im Rahmen ihres Studiums als KulturwissenschaftlerInnen an der Bremer Uni, übrigens. Das Ergebnis des Projektes ist, ganz nebenbei, auch ein Beleg für studentische Beharrlichkeit und trotz des Themas, trotz der Moore, kein bißchen muffig geworden.
Zur ersten Annäherung ans Buch bietet sich, neben dem Schöne-Kalenderfotos-Gucken, das wahllose Schmökern. Es gibt genug, woran der Blick kleben bleibt. Vor allem die vielen kleinen Gimmicks haben es in sich: „Moorschuhe für Pferde“ beipielsweise, unter der Rubrik Fischerhude. Oder die Zeichnung von den utopischen Windmühlen, Marke: Kreuzung aus Eiffelturm und geschossenem Spargel.
Vorweg: Die Orientierung im Land der Moore und Deiche wird LeserInnen am leichtesten fallen, wenn sie schon wissen, was sie suchen. Hinweise auf Badeseen etwa, kulinarische Adressen – mit Himmelstorten- und Braunkohl-Tips. Oder Radtouren. Übersichtskarten orientieren dabei: Wo liegt das „Stedinger Land“ – und was ist rund um Brake los? Man erfährt: Die Werftenkrise wurde hier schon vor über hundert Jahren erfolglos mit „Tretmühlen“ bekämpft, in denen sich arme „Züchtlinge“ zum Zweck der Weserausbaggerung abstrampelten.
Ein Glück, daß die Titel der vielen hintergründigenAufsätze im Buch weniger versprechen, als sie alle miteinander halten. So wird die Entscheidung: Wo anfangen zu lesen, nicht unnötig schwer gemacht. Und irgendwann, nach dem Bunker „Valentin“, dem Wollarbeiterstreik von 1897, und dem Portrait des Künstlers Gottlieb Pot d'Ors, ergibt man sich dann sogar der „Bienenkönigin von Fischerhude“.
Man erfährt, daß Fischerhude quasi heiliges Land ist, seit der radioaktive Tschernobyl-Fallout den Flecken auf unerklärliche Weise verschonte. Fischerhude, die Null-Becquerel-Zone. Solche Details haben die HerausgeberInnen mit praktischen Hinweisen garniert – darüber beispielsweise, wann Schulklassen dem Fischerhuder Imker beim Honigschleudern zuschauen können. Das ist gut. ede
„Im Land der Moore und Deiche“, erschienen bei Edition Temmen, 34,90 DM
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