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Ein Referendum, das niemand versteht

■ Die Volksabstimmung über die Privatisierung in Polen ist gescheitert

Warschau (taz) – Vor der Warschauer Grundschule an der Hölzernen Straße hatte jemand zwei rot-weiße Nationalfähnchen aufgepflanzt. Am Eisentor flattert ein notdürftig festgezurrtes Plakat: „Volksabstimmung“. Doch die meisten Sonntagsspaziergänger haben offenbar keine Lust, auch nur für ein paar Minuten in das muffige Gebäude zu gehen und über die künftige Form der Privatisierung des Staatsvermögens in Polen abzustimmen.

„Bin ich vielleicht ein Wirtschaftsfachmann?“ ärgert sich ein dick vermummter Arbeiter. „Ich verstehe gar nicht, was die von mir wollen. Ich mache meinen Job, die Politiker sollen gefälligst ihren machen.“ Auch die junge Frau, die einen Kinderwagen über den vereisten Gehweg schiebt, schüttelt den Kopf: „Das Referendum ist völlig sinnlos. Was das wieder kostet! Und später machen sie ja doch, was sie wollen.“

Schon am Montag nachmittag zeichnete sich ab, daß die erste Volksabstimmung in Polen seit der politischen Wende von 1989 gescheitert war. In manchen Bezirken hatten sich nur 15 Prozent der Stimmberechtigten auf den Weg zu den Wahlurnen gemacht. Das endgültige Abstimmungsergebnis wird erst am Dienstag vorliegen. Schon Tage vor dem Referendum hätten eigentlich sämtliche Alarmglocken bei den Politikern läuten müssen. Umfragen zufolge hatten die meisten Polen nicht verstanden, worum es in der Volksabstimmung überhaupt ging. Selbst die Kommentatoren der seriösen Bankzeitung und des Nachrichtenmagazins Polityka konnten angesichts der fünf komplizierten Fragen auf dem Abstimmungsschein nur hilflos mit den Schultern zucken – zum Beispiel: „Sollen die Schulden, die die Regierung bei den Rentnern und Staatsbediensteten hat und die sie nach einem Urteil des Verfassungsgerichts zurückzahlen muß, aus dem Privatisierungsfonds beglichen werden?“

Mit dem Scheitern des Referendum ist nun aber nicht die Massenprivatisierung an ihr Ende gekommen, sondern – und nun wohl endgültig – die politische Karriere Lech Walesas. Denn er war es, der die Volksabstimmung noch während seiner Amtszeit als Präsident durchgesetzt und das Abstimmungsergebnis unmittelbar mit seiner Person verbunden hatte. Am Sonntag meinte er gar, daß das Referendum für ihn „wichtiger als die Präsidentschaftswahlen“ sei.

Die über 28 Millionen Stimmberechtigten ließen sich von solchen Sätzen nicht beeindrucken. Mit Mühe unterschieden sie auf den Abstimmungszetteln zwei Privatisierungsmodelle. Modell Nummer eins stammte von Lech Walesa und sah die vollständige Privatisierung des Staatsvermögens vor, auch den Verkauf von kommunalen Wohnungen, Gebäuden und Grundstücken. Hinter diesem Projekt steht der alte Plan der Gewerkschaft Solidarność, allen Polen ein Stück Staatseigentum in Form eines Kupons zukommen zu lassen.

Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Walesa noch jedem Staatsbürger 100 Millionen Zloty (nach damaligem Wert rund 10.000 Mark) aus dem Privatisierungsfonds versprochen. Tatsächlich ist aber während der vergangenen fünf Jahre kein einziger Zloty aus dem Staatsvermögen in die Portemonnaies der Polen geflossen.

Das zweite Modell wird seit November 1995 von der Regierungskoalition aus der Allianz der demokratischen Linken (SLD) und der Bauernpartei (PSL) favorisiert. Für die sogenannte Massenprivatisierung wählte die exkommunistische Koalition 514 Staatsunternehmen aus. Wer bereit ist, 20 Zloty Gebühren (zwölf Mark) auf den Tresen zu legen, erhält seinen persönlichen Anteilsschein, den er oder sie in ein bis zwei Jahren in eine Aktie tauschen kann. Über den Wert dieser Aktie wird zwar heftig spekuliert, letztlich weiß aber niemand, wieviel „Vermögen“ die Aktionäre einstreichen werden. Das Problem bei dem einen wie dem anderen Modell ist, daß kaum jemand die Konsequenzen der einen oder der anderen Form der Privatisierung überschauen kann. Gabriele Lesser

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