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Ein Plädoyer fürs Wählen mit 16Diffamierung per Zahnspange

Wenn Hamburg und Schleswig-Holstein übers Absenken des Wahlalters diskutieren, wird wieder die Warnung vor der angeblich unreifen Jugend ertönen. Dabei haben Bremer Erfahrungen die widerlegt.

Frühes Interesse: Vor der Schleswig-Holstein-Wahl diskutieren Jugendliche im Landtag mit Politikern. Bild: dpa

BREMEN taz | Wählen mit 16 ist in deutschen Bundesländern ein Thema: Die drei rot-grünen Länder Schleswig-Holstein, NRW und Rheinland-Pfalz haben es in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. In Hamburg beschäftigt sich bereits ein Ausschuss der Bürgerschaft mit einer möglichen Umsetzung. Und in Bremen wurde am 22. Mai 2011 erstmals ein Landesparlament auch von 16–17-Jährigen gewählt.

Kurz zuvor war die Senkung des Wahlalters zum Thema der bundesweiten Berichterstattung geworden. Ein Bild setzte sich dabei durch: „Wähler mit Zahnspange“ titelte die Welt kompakt am 20. Mai 2011. Der erste Satz der Süddeutschen zum Titel „Wählen mit 16“ zwei Tage vorher: „In Bremen trägt der neue mündige Bürger Zahnspange“. Vermutlich hatten beide Zeitungen dieses Bild einem Spiegel-Artikel entnommen, der weitere zwei Tage zuvor erschienen war und ebenfalls begann mit: „Der mündige Bürger ist klein und dünn, er trägt eine Zahnspange“ (20 / 2011).

Was dieses Bild aussagt, wird erhellt durch die Tatsache, dass ein angehender Wehrdienstleistender bei der Tauglichkeitsprüfung ein „T4“ erhielt, wenn er noch eine Zahnspange trug: „Vorübergehend nicht wehrdienstfähig“, also nicht kompetent, unreif und unfähig, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen.

Hans-Wolfram Stein

62, Politiklehrer und seit Ende der 1990er-Jahre Regionalkoordinator des Bundeswettbewerbs "Demokratisch Handeln" in Bremen. Im Jahrbuch "Demokratiepädagogik 2012" hat er das Thema im Aufsatz "Wählen mit 16 - eine Aufgabe der Demokratieerziehung analysiert.

Der Unreife-Verdacht ist eines der am häufigsten vorgetragenen Argumente gegen die Absenkung des Wahlalters. Während Professor Klaus Hurrelmann, Mitautor der breit angelegten Shell-Jugendstudie, im Widerspruch zu dieser Annahme schon seit 1997 feststellt, dass sich „die faktische Lebenssituation“ von Jugendlichen und der über 18-Jährigen „angeglichen“ habe, und auch der Bildungssoziologe Christian Palentien, Professor an der Bremer Uni, feststellt, dass sie „ab einem Alter von ungefähr 14 Jahren sozial und moralisch urteilsfähig“ sind, stützt sich das Unreife-Argument auf eine – methodisch fragwürdige – Untersuchung der Uni Hohenheim: Der Diplom-Kommunikationswissenschaftler Jan Kercher will dort per Multiple-Choice-Abfrage des Standardwissens von 134 SchülerInnen herausgefunden haben, dass „16- und 17-Jährige“ ein „signifikant geringeres politisches Wissen als Volljährige“ hätten, wie der Spiegel resümiert – und deshalb nicht wählen könnten.

Statt diesen behaupteten Zusammenhang infrage zu stellen, geht es der Presse oft nur darum, die Behauptung mit geeignet diffamierenden Bildern zu illustrieren. So hatte der Verfasser des Spiegel-Artikels zuvor eine Podiumsdiskussion der Bremer SpitzenkandidatInnen mit Jugendlichen beobachtet.

Dabei traf er auch SchülerInnen meines Kurses. Dieser Kurs hatte seit August 2010 zum Thema Wahlrecht ab 16 gearbeitet, MitschülerInnen aufgeklärt und motiviert, von ihrem neuen Wahlrecht Gebrauch zu machen, sich in vielen Diskussionen mit Politikern eingemischt und immer wieder in Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen zur Politik Stellung genommen.

Einer von diesen 23 Schülern trägt eine Zahnspange.

Der Spiegel greift ihn heraus, nennt ihn mit vollem Namen und schreibt zu „seinem Auftritt im Festsaal der Bremischen Bürgerschaft“, was in einer Theaterrezension eine vernichtende Kritik genannt würde: „Sichtlich nervös schleicht der Schüler zum Mikrofon und liest dort vom Zettel seine Frage ab. Es geht um die Lehrstellensituation, die sei nicht befriedigend […]. Er referiert Zahlen und Zitate, die er zuvor mit seinen Mitschülern zusammengetragen hat. Er wird immer leiser, am Ende ist er fast nicht mehr zu verstehen. Nach einer Minute läutet eine Glocke, einige der 400 Schüler im Saal lachen.“

Die Zahnspange ist bei dieser Schilderung einer Frage nach einer „nicht befriedigenden Lehrstellensituation“ ein wichtiges Bild für Inkompetenz. Ein paar Tage später rufe ich den Redakteur an und will wissen, wonach der Schüler eigentlich gefragt habe. Der Journalist hatte nicht mehr begriffen, als er schreibt – und das ist wenig: „Die unbefriedigende Lehrstellensituation, genauer weiß ich das nicht“, bekennt er.

Tatsächlich hatte der Schüler in seinem Beitrag die Probleme der Lehrstellensituation in Deutschland und vor allem in Bremen ausführlich dargestellt: In der veröffentlichten Meinung, im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung stand die Einschätzung im Zentrum, dass nur zwei Prozent der Lehrstellenbewerber „unversorgt“ seien, dass die Wirtschaft viele Lehrstellen nicht besetzen könne.

Als nicht befriedigend können nur inkompetente Jugendliche – wahrscheinlich mit Zahnspange – diese Lehrstellensituation empfinden. Die SchülerInnen des Kurses hatten dagegen tatsächlich Statistiken gewälzt und herausgefunden, dass laut Berufsbildungsbericht bundesweit nur 48 Prozent der Bewerber in eine Berufsausbildung eingemündet waren, in Bremen sogar nur 36 Prozent. Entgegen der offiziellen Darstellung war die Mehrheit der Jugendlichen 2010 ohne Lehrstelle geblieben und oft in Warteschleifen geblieben.

Wenn der Schüler also die Fakten genannt und nach der mangelnden „Berufseinmündung“, dem Fachbegriff der Berufsbildungsforschung, gefragt hatte, war das zweifellos eine begrifflich kompetente Art, das Problem darzustellen. Es hatte zudem direkten Bezug zur Bremer Regierungspolitik. Im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2007 hieß es ja ausdrücklich: „Das Ziel aller Maßnahmen muss die Einmündung in Ausbildung sein.“ Der Redebeitrag des Schülers war insofern eine zweifellos sachliche und politisch kompetente Kritik an der Regierungsarbeit.

Zum Beispiel für Unreife wird er im Spiegel und danach in anderen Zeitungen der Bundesrepublik – weil er eine Zahnspange trägt. Und etwas leise spricht.

Der zweite populäre Vorbehalt gegen eine Absenkung des Wahlalters ist die Vermutung, dass „Jugendliche gern Protest“ wählen würden – womit ein höherer rechtsradikaler Stimmenanteil gemeint ist. Doch auch hier wird mit unkorrekten Belegen gearbeitet, etwa dem Vergleich des NPD-Anteils aller Altersgruppen bei verschiedenen Landtagswahlen mit denen bei der Juniorwahl, einer Wahlsimulation an Schulen. Das führt zu grotesk falschen Aussagen: Bei der Juniorwahl in Sachsen-Anhalt hätte „die NPD mehr als doppelt so viele Stimmen wie bei der tatsächlichen Wahl“ erreicht, berichtete der Spiegel.

Wahr ist, dass der Anteil der NPD-WählerInnen bei der Juniorwahl mit 11,4 Prozent bedenklich hoch lag. Er lag deutlich über dem Gesamtergebnis (4,5 Prozent), aber nur unwesentlich über dem der über 18 Jahre alten Erstwähler (10,1 Prozent). Und: Diese Tendenz muss nicht eintreten.

So hatte es an den Bremischen Schulen eine intensive politische Bildung gegeben. Alle Schulen hatten sich an der Juniorwahl beteiligt, 500 Schüler hatten sich über die „Werderwette“ für eine hohe Wahlbeteiligung engagiert, an vielen Schulen Diskussionen organisiert.

Das Ergebnis soll am Beispiel Bremerhaven illustriert werden, wo ein rechtsradikales und rechtspopulistisches Wählerpotenzial seit mehreren Jahren Vertreter der DVU und der Bürger in Wut (BIW) ins Landesparlament gespült hatte. Auch 2011 zog die rechtspopulistische BIW dort mit 7,1 Prozent in die Bürgerschaft ein. Lag das an der Absenkung des Wahlalters?

Nein: Bei den Bremerhavener Juniorwahlen fiel BIW mit 2,5 Prozent durch. Auch wenn man den rechten Block von BIW, NPD und Protest der Bürger addiert, kommt man bei der Bremerhavener Juniorwahl nur auf 6,5 und beim amtlichen Endergebnis der Landtagswahl auf 10,1 Prozent.

Zugleich war die Wahlbeteiligung der Erstwähler (16–20 Jahre) bei der Bremer Wahl ein Erfolg: Sie lag laut amtlicher Wahlstatistik mit 48,6 Prozent deutlich höher als bei der folgenden Altersgruppe von 21–35 Jahre (41,3 Prozent). Zudem stieg in der Altersgruppe der Erstwähler die Wahlbeteiligung insgesamt an, während sie allgemein rückläufig war.

Daran hatten gerade die 16–17-Jährigen Anteil, die sich mit 53,6 Prozent beteiligten. Gegenüber den Stadtteilbeiratswahlen 2007, bei denen sie bereits wählen durften, stieg ihre Wahlbeteiligung um satte 9,2 Prozent. Die 25 Schulklassen hatten damit ihre Wette gegen die Fußballer von Werder Bremen gewonnen, dass die Wahlbeteiligung der Erstwähler höher sein würde als die in der Altersgruppe der Sportler (21–35-Jahre).

Schließlich hatten die angeblich so unreifen Erstwähler den geringsten Anteil an ungültigen Stimmen aller Altersgruppen. Bei den über 60-Jährigen war er vier Mal höher. Auch laut Landeswahlleiter Jürgen Wayand ist „die Absenkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre als Erfolg zu werten“. Der sei jedoch „nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis intensiver Beschäftigung mit dem Thema Wahlen an den Schulen“. Diese wertete er angesichts einer sonst wachsenden Wahlmüdigkeit als „wertvolle Investition in die Zukunft“.

Die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ist also sinnvoll. Sie muss aber auch begriffen werden als eine Aufgabe der Demokratieerziehung.

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11 Kommentare

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  • H
    hopfen

    Wenn man einige Kommentare hier ließt denkt man man sollte ein Wahlhöchstalter einführen und es auf 35 setzen...

  • JK
    Jan Kercher

    Sehr geehrter Herr Stein,

    ich stimme Ihnen in einem Punkt voll und ganz zu: Die „Diffamierung per Zahnspange“ ist tatsächlich kein Nachweis von seriösem Journalismus – ganz im Gegenteil. Hier handelt es sich um ein Niveau, das sonst von denselben Medien kritisiert wird, wenn es um Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ und Protagonisten wie Dieter Bohlen geht.

     

    Einen anderen Punkt Ihres Beitrags muss ich allerdings entschieden kritisieren – und zwar aus einem ganz ähnlichen Grund: Denn leider diffamieren Sie die Studie der Universität Hohenheim, die Sie in Ihrem Beitrag mit einer Nebenbemerkung als „methodisch fragwürdig“ abqualifizieren auf eine ganz ähnliche Weise wie es die von Ihnen kritisierten Journalisten mit dem zahnspängigen Schüler tun: Ohne näher auf den Grund einzugehen, warum die Studie denn eigentlich „methodisch fragwürdig“ sein soll und v.a., ohne auf die eigentlichen Inhalte der Studie einzugehen, die keineswegs in der „Multiple-Choice-Abfrage des Standardwissens“ der befragten Schüler bestand, wie ich Ihnen als Leiter der Untersuchung versichern kann.

     

    Sie kritisieren in Ihrem Beitrag den Journalisten, der sich offensichtlich überhaupt nicht mit den Inhalten des Wortbeitrags des diffamierten Schülers auseinandergesetzt hat, sondern v.a. mit dessen Zahnspange und seinem unsicheren Auftreten. Angesichts solch einer – berechtigten – Kritik mutet es jedoch seltsam an, wenn Sie im selben Beitrag eine Studie diffamieren, mit der Sie sich offensichtlich ebenso wenig inhaltlich und methodisch auseinandergesetzt haben wie der kritisierte Journalist mit dem Beitrag des Schülers. Denn Ihre Anmerkungen zu unserer Studie lassen sich aus meiner Sicht nur so erklären, dass Sie die Studie nicht selbst gelesen haben, sondern nur die Ausführungen des zitierten Spiegel-Artikels zu unserer Studie.

     

    Ich will Ihnen deshalb zunächst noch einmal die eigentlichen Inhalte unserer Studie umreißen, bevor ich auf zwei Aspekte eingehe, die von Ihnen vermutlich als Anlass genommen wurden, unsere Studie fälschlicherweise als „methodisch fragwürdig“ zu bezeichnen.

     

    Zum Inhalt unserer Studie: Wie Sie in der öffentlich einsehbaren Ergebnis-Präsentation zu unserer Wahlalter-Studie nachlesen können (siehe: https://www.uni-hohenheim.de/fileadmin/einrichtungen/komm/PDFs/Komm/Verstaendlichkeit/Studie_Wahlalter.pdf), lautete die zentrale Forschungsfrage unserer Untersuchung: „Lässt sich eine Herabsetzung des Wahlalters in Deutschland durch Ergebnisse zum Politikverständnis bei heutigen und potenziellen Erstwählern begründen?“ Anlass für diese Studie waren die immer wieder erhobenen Forderungen nach einer Herabsetzung des Wahlalters in Deutschland und der Umstand, dass in Österreich seit der letzten Nationalratswahl ein Wahlrecht ab 16 Jahren gilt. Wie sind wir hierfür vorgegangen? Zunächst stellten wir den StudienteilnehmerInnen (Haupt- und Berufsschüler, sowie Gymnasiasten und Studierende im Alter von 16 bis 21 Jahren) Fragen zu Ihrem politischen Begriffswissen und zum Wissen über die Parteizugehörigkeit und Funktion bekannter SpitzenpolitikerInnen. (Hierbei wurde jeweils auch die Sicherheit der Antworten abgefragt, um kontrollieren zu können, ob es sich eher um geratene Antworten handelte.)

     

    Anschließend wurden den Schülern und Studierenden vier kurze Politiker-Ansprachen (von Merkel, Westerwelle, Lafontaine und Kurt Beck) dargeboten, jeweils zwei als Video und zwei als Lese-Text. Danach wurden die TeilnehmerInnen um eine Gesamtbewertung der Verständlichkeit der Reden gebeten und mussten Verständnisfragen zu den Texten beantworten (auch dabei wurde wieder jeweils die Sicherheit der Antworten erfasst).

     

    Warum erläutere ich dies so ausführlich? Weil hierdurch deutlich wird, dass das politische Wissen, das wir erhoben haben nicht erhoben wurde, um irgendeine Form von „Standardwissen“ (was immer Sie damit meinen) zu erheben und zu untersuchen, sondern als spezifische Kontroll- bzw. Erklärungsvariable erhoben wurde, um das Verständnis der politischen Reden bei den UntersuchungsteilnehmerInnen erklären zu können. Dabei stellten wir dann fest, dass dieses Wissen, ebenso wie das Verständnis der politischen Reden (um das es ja eigentlich ging), bei den minderjährigen TeilnehmerInnen signifikant geringer ausfiel als bei den volljährigen TeilnehmerInnen. Unsere Schlussfolgerung aus diesem Ergebnis lautete dann jedoch keineswegs, dass 16- und 17-jährige SchülerInnen „nicht wählen könnten“, sondern so: „Eine Herabsetzung des Wahlrechts auf 16 Jahre sollte also nicht erfolgen, ohne vorher die politische Bildung in den entsprechenden (niedrigeren) Klassenstufen auszubauen.“ Wir kamen also eigentlich fast zum selben Fazit, dass auch Sie in Ihrem Beitrag ziehen, nämlich, dass eine Wahlaltersenkung auch als „Aufgabe der Demokratieerziehung“ begriffen werden muss.

     

    Vielleicht ist nun nachvollziehbar, warum ich nur stark vermuten kann, dass Sie unsere Studie vor dem Schreiben Ihres Beitrags nicht gelesen haben und – falls doch – leider auch keinen Bedarf sahen, uns noch einmal zur Methodik und zur Interpretation unserer Ergebnisse zu befragen, bevor Sie diese als „methodisch fragwürdig“ abqualifizierten. Hätten Sie diese Möglichkeit genutzt, hätte ich Ihnen auch gerne erläutert, warum unsere Studie keineswegs methodisch fragwürdig ist, trotz der vielleicht auf den ersten Blick niedrig wirkenden Fallzahl und der Multiple-Choice-Fragen, die wir zur Erhebung des politischen Wissens und des Verständnisses der Politiker-Reden verwendeten (denn ich vermute einmal, dass diese beiden Aspekte unserer Untersuchung Sie zu Ihrer Einstufung als „methodisch fragwürdig“ brachten):

     

    Zur Fallzahl: Bei unserer Untersuchung handelt es sich, wie wir auch explizit in der Ergebnis-Präsentation erwähnen, um ein Experiment – und nicht um eine repräsentative Erhebung. Experimente haben – anders als repräsentative Erhebungen - nicht das Ziel, von einer möglichst repräsentativen Stichprobe auf die Gesamtheit der Bevölkerung zu schließen, sondern lediglich das Ziel, bestimmte Wirkungszusammenhänge zu erforschen und zu belegen. Also z.B. – wie in unserem Fall - den Wirkungszusammenhang zwischen Alter und den politischen Verstehensfähigkeiten von (potenziellen) Jungwählern. Solch ein Nachweis bedarf – anders als vielfach angenommen - keineswegs einer repräsentativen Stichprobe. Denn es geht ja auch nicht um repräsentative bzw. absolute Aussagen, sondern um relative Aussagen. Anders formuliert: Um etwas über den Zusammenhang von Alter und Politik-Verständnis sagen zu können, muss ich nicht unbedingt eine Stichprobe heranziehen, die möglichst exakt der Verteilung aller Jungwähler in Deutschland entspricht. Es reicht, wenn ich sicherstelle, dass alle relevanten Merkmale (hier also Alter und Bildungsgrad) in ausreichender Varianz in der Stichprobe vorhanden sind. Dies lässt sich – anders als bei repräsentativen Stichproben – besser durch eine bewusste Auswahl als durch eine Zufallsauswahl gewährleisten. In unserem Fall sah diese bewusste Auswahl so aus, dass wir gezielt neunte Klassen an einer Hauptschule und einem Gymnasium (16 bis 17 Jahre, unterschiedliche Bildungsgrade) sowie Berufsschüler und Studienanfänger (18 bis 21 Jahre, unterschiedliche Bildungsgrade) für unsere Untersuchung auswählten. Kontrolliert man die Versuchsbedingungen dann ausreichend (wird also z.B. sichergestellt, dass alle TeilnehmerInnen die Reden bzw. Texte unter denselben äußeren Bedingungen sehen bzw. lesen konnten), dann kann von den Ergebnissen (bei entsprechender Eindeutigkeit) auf kausale Zusammenhänge geschlossen werden – anders übrigens als bei rein repräsentativen Befragungen, die solche Kausalschlüsse aufgrund der mangelnden Kontrolle der Wirkungsbedingungen meistens nicht zulassen.

     

    Übrigens, nur am Rande: Die berühmtesten und folgenreichsten Experimente der Sozialforschung (z.B. die legendären Experimente von Asch und Milgram) hatten häufig noch deutlich niedrigere Fallzahlen als unsere Untersuchung, teilweise sogar nur Fallzahlen zwischen 10 und 20 TeilnehmerInnen.

     

    Zur Multiple-Choice-Abfrage: Bei der Erhebung von politischem Wissen und politischem Verstehen gibt es unterschiedliche Ansätze und Methoden. Keine dieser Methoden ist unumstritten. Man muss sich also zwangsläufig für eine Methode entscheiden, die aus dem einen oder anderen Grund kritisierbar ist. Multiple-Choice-Fragen wird häufig vorgeworfen, dass mit dieser „oberflächliche“ Abfrageweise keine fundierte Wissensabfrage möglich sei. Andersherum lassen sich aber auch berechtigte- und aus unserer Sicht gerade im vorliegenden Kontext noch schwerwiegendere - Einwände gegen die alternativen Ansätze vorbringen: Denn bei einer offenen Frageweise (ohne Auswahlantworten) stellt sich das Problem, dass die Antwortgüte stark von der jeweiligen Verbalisierungsfähigkeit der Befragten abhängig ist. Das Problem hierbei: Gymnasiasten und Studierende haben meistens eine deutlich höhere Sprachkompetenz als Hauptschüler und Berufsschüler. Was wiederum bedeutet, dass Letztere systematisch benachteiligt würden, wenn man von ihren Antworten auf offene Wissensfragen auf ihr politisches Wissen oder Verstehen schließen würde – einfach nur, weil sie weniger gut in der Lage sind, dieses Wissen zu verbalisieren, und nicht, weil sie zwangsläufig tatsächlich über weniger Wissen verfügen. Gerade bei der Befragung von jüngeren Befragten, deren Sprachkompetenz ja teilweise noch in der Entwicklung ist, sind deshalb Multiple-Choice-Fragen zur Erhebung des Wissens – zumindest aus unserer Sicht – eine sehr viel validere Erhebungsmethode als offene Wissensfragen.

     

    Und selbst, wenn man zu einer anderen Einschätzung gelangt, so lässt sich feststellen: Multiple-Choice-Abfragen zählen zum Standard-Repertoire der Forschung zum politischen Wissen und politischen Verstehen – selbst bei älteren Befragten. Sie sind also keineswegs eine spezifische „Schwäche“ unserer Untersuchung, sondern – wenn überhaupt – eine Schwäche der gesamtem Forschung zum politischen Wissen bzw. politischen Verstehen. Einen zentralen und ebenfalls häufig kritisierten Nachteil der MC-Fragen – die Rate-Möglichkeit, haben wir im Übrigen dadurch entschärft, dass wir immer auch die Sicherheit der Antworten abgefragt haben – was eine Unterscheidung von geratenen und sicheren Antworten ermöglicht.

     

    Dies alles hätte ich Ihnen gerne mitgeteilt, wenn Sie uns für die Recherche zu Ihrem Beitrag vorab zu unserer Studie und zu unseren Ergebnissen befragt hätten.

     

    Mit freundlichen Grüßen

    Jan Kercher

  • TS
    Thomas Sch.

    Man sollte das Wahlalter nicht absenken, sondern eher darüber nachdenken, es zu erhöhen. Gerade hier in der TAZ beschwert sich der Durchschnittblogger (zurecht) über die Blödsinnigen im Lande, die andauernd die größten Schwachsinnigkeiten produzieren, bzw. nichts dagegenhaben, wenn unsere dillettierende Regierung eine Irrlichterei nach der anderen macht. Und dann sollen wir 16-jährige zulassen, die möglicherweise eher an ihre Karriere bei Dieter Bohlen denken oder als Berufwunsch Rapper angeben ? Der Wind weht woanders her: Es ist wisschenschaftlich klar dokumentiert, daß Jugendliche besonders leicht manipulierbar sind, bzw. sich gegenüber der Peer-grop-pressure (Gruppendruck) nicht zurwehrsetzen können. Klar, welche Gruppen da am Meisten profitieren. Und ebenso klar, daß genau diese Gruppen genau deshalb das fordern. Sehr durchsichtiges Manöver. Das man das als Erweiterung der Demokratie tarnt, ist da nur die Kirsche obendrauf.

  • H
    Hulk

    Alles klar, wählen ab 16 und Jugendstrafrecht bis zum 24+ Lebensjahr. Je nachdem wie es wem am besten passt.

  • D
    D.J.

    Wenn ich dieses Gerede von der moralischen Reife von 16jährigen höre, frage ich mich, warum die linken Parteien nicht an das Jugendstrafrecht ranwollen?

    Geht es am Ende v.a. um die sicher nicht unberechtigte Hoffnung, dass Jugensliche häufiger links wählen?

  • S
    Sikasuu

    Wählen mit 16? Schöner Traum. Zum Wahlrecht gehört auch die Übernahme von Verantwortung für diese Entscheidung.

    .

    Wie sollen das NICHT geschäftsfähige Menschen wohl machen. Wahlrecht auf dem Niveau des "Taschengeldparagraphen"?

    .

    Oder wird mit dieser Wahlrechtsreform auch das Volljährigkeitsalter auf 16 gesenkt?

    .

    Da dürfen 18 Jährige, die und deren Eltern hier geboren sind, nicht wählen, weil sie "de jure" Ausländer sind, aber unsere Politiker denken darüber nach ob Wahlrecht wohl ein Schulprojekt für die 10 Klasse sein soll.

    .

    Wenn Wahlen etwas bezwecken würden, wären sie wohl verboten! So langsam scheint dieser Satz wohl wahr zu werden

    .

    Gruss

    Sikasuu

  • PM
    Peter Müller

    Ich bin prinzipiell für ein Wahlrecht ab 16 Jahren, auch wenn zielichtige Gestalten wie Bushido (hat gerade Gründung einer eigenen Partei verkündet) davon profitieren könnten. Letzendlich gibt es auch in dieser Altergruppe nicht mehr ungebildete Hirnis als in anderen.

  • FH
    Fred Heine

    Der Beitrag geht komplett am Thema vorbei. Es ist doch völlig wurscht, was die Jungen wählen würden und ob sie irgendwelche Radikalen wählen oder nicht. Es ist die Diskrepanz zwischen Rechten und Pflichten. Einerseits soll die Wahlmündigkeit gesenkt, andererseits aber die Strafmündigkeit erhöht werden. Das passt einfach nicht zusammen. Es ist jetzt schon bisweilen bemerkenswert, wie wenig Eigenverantwortung die Wähler zeigen. Man macht sein Kreuz (oder auch nicht) und schimpft dann auf die Politiker, die man gewählt hat. Und jetzt sollen plötzlich Leute wählen dürfen, denen man nicht einmal zutraut, öffentlich eine Zigarette zu rauchen? Es gibt ein Jugendstrafrecht, weil man davon ausgeht, dass ein junger Mensch die Konsequenzen seiner Handlungen nicht immer voll überblickt. Zugegeben, das trifft auch auf viele Erwachsene zu. Die erhalten aber in der Regel keinen Strafbonus. Wählen heißt, Verantwortung übernehmen. Wer das nicht kann, soll es aber bleiben lassen.

  • L
    Lisa

    Es gehen mitunter nur noch die Hälfte der Wahlberechtigten wählen. Ist das nicht eher das Problem als 16 jährige, die nicht wählen dürfen?

  • K
    KlausBarmbek

    Moin !! Ich hoffe das dann auch das Erwachsenen Strafrecht,angewendet werden darf, was ich aber bezweifel..mit 16 wählen dürfen aber als 20 jähriger in den Jugendvollzug oder wie, allmählich reicht mir dieses ganze GUTMENSCHEN gedünken !!

  • A
    ama.dablam

    Wird die Schwelle zur Strafmuendigkeit auch entsprechend gesenkt?