Ein Opfer der US-Finanzkrise: Leslies Alptraum
Erst war es nur eine kleine Hypothek, die Leslie Day helfen sollte. Dann wurde sie krank, ihre Kirche musste helfen. Leslie Day ist eines der Opfer der US-Finanzkrise.
Leslie Day hat lustige rosa Ohrringe in Herzform angelegt, dazu trägt sie ein farblich passendes Sweatshirt. Sie gibt sich Mühe, heiter zu wirken, bisweilen gelingt ihr das auch. Mit einladendem Lächeln öffnet sie die Tür zu ihrer Gründerzeitvilla im historischen St. Nicholas District von Harlem.
Keine fünf Minuten später aber kullern der kräftigen, schwarzen Frau die Tränen übers Gesicht. "Ich weiß nicht, wie das alles passieren konnte", sagt sie und weist auf die Baustelle, die einmal ihr Wohnzimmer war. Die 44-Jährige hat auf ihrem mit Laken abgedeckten Sofa Platz genommen und erzählt vom letzten Winter, als sich ihr geordnetes Leben in ein heilloses Chaos verwandelt hat. Leslie Day ist ein Opfer der Subprime-Krise, der schweren Banken- und Finanzkrise, die im Laufe des letzten Jahres Millionen US-Bürger ihr Haus, ihre Wohnung, ihre Sicherheit gekostet hat. Dass sie Besucher noch immer zu Hause empfangen kann, verdankt sie einem kleinen Wunder. Doch bevor es ihr wiederfuhr, musste Leslie Day einen harten Winter überstehen.
Damals konnte sie ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen, das Wasser war in den Leitungen gefroren, der Boiler geplatzt. Allein saß sie in ihrem kalten dunklen Haus, sie wusste nicht, wie das Leben weiter gehen soll. "Ich hatte vorher noch nie Alkohol getrunken", erzählt Leslie Day, "aber da habe ich mir eine Flasche Tequila gekauft."
Noch immer hat sie mehr als eine Million Dollar Schulden und eine Räumungsklage am Hals. Die Gläubigerbank, die ihre Hypothek aufgekauft hat, sitzt ihr im Nacken. "Wenn ich meine Kirche hier in Harlem und meinen Glauben nicht hätte, dann wüsste ich oft nicht mehr, was ich machen soll", sagt sie.
Angefangen haben Leslies Schwierigkeiten, als ihre Ehe kaputt ging. Gemeinsam mit ihrem Mann hatte sie Mitte der 90er Jahre das denkmalgeschützte Town House von 1890 an der 138. Straße gekauft. Verdammt günstig, nur 175.000 Dollar kostete das Schmuckstück. "Damals war Harlem noch herunter gekommen und gefährlich", erklärt sie, "kein Mensch wollte hierher ziehen." Bis zur Scheidung 2001 hatten sich aber selbst im ehemaligen Ghetto die Immoblienpreise vervielfacht. Um ihren Exmann gemäß dem neuen Wert auszahlen zu können, musste Leslie Day eine Hypothek aufnehmen, bei ihrem niedrigen Einkommen als Schneiderin zu ungünstigen Konditionen.
Trotzdem kam Leslie mit den Zahlungen nach. Noch. Durch einen Zweitjob als Verkäuferin im Kaufhaus konnte sie sogar etwas Geld für den Hausumbau beiseite legen, um später untervermieten zu können. Doch dann passierte für jemanden wie Leslie, die wie Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung hat, die Katastrophe: In ihrer Schulter wurde ein bösartiger Tumor festgestellt, sie musste operiert werden. Das bedeutete Arztrechnungen im hohen sechsstelligen Bereich und monatelangee Verdienstausfall. Leslie Day musste eine weitere Hypothek aufnehmen, eine noch teurere als die erste. Sie stoppte den Hausumbau, die Handwerker hinterließen ein Chaos aus durchbrochenen Wänden und offenen Decken. So sieht es bis heute bei ihr aus - in den Räumen stehen Leitern, als wären die Maler nur kurz zur Mittagspause.
Selbst als Leslie wieder arbeiten konnte, reichte ihr Einkommen aus zwei Jobs bei weitem nicht mehr aus, um die hohen Raten und die Arztrechnungen bezahlen zu können. Als dann auch noch vor zwei Jahren ihre Mutter in Kentucky kurz davor stand, ihr Haus zu verlieren, wurde die Lage bedrohlich. Einen normalen Kredit bekam Leslie jetzt nicht mehr, nicht einmal mehr eine Subprime-Hypothek für 30 Prozent Zinsen oder mehr. Und so überschrieb sie das Haus einer Firma, die alle ihre früheren Hypotheken übernahm, ihre Mutter mit 6.000 Dollar davor bewahrte, auf die Straße gesetzt zu werden, und Leslie als Mieterin in ihrem Haus wohnen ließ. Nach einem Jahr, so das Versprechen der Investoren, würde der Mietvertrag in eine Hypothekenvereinbarung zurück umgewandelt - damit Leslie ihr Haus zurück bekommt.
Natürlich, ahnte Leslie, "konnte das nicht mit rechten Dingen zu gehen, aber es war mir egal. Es ging um meine Mutter, für sie hätte ich alles getan." Die Ernüchterung kam denn auch prompt. Ihre erste Mietrechnung betrug 11.000 Dollar - ein absurd hoher Betrag. Der neue Vermieter legte es offenbar darauf an, Leslie zügig aus dem Haus zu bekommen. Kein Wunder, das Gebäude wird auf zwei Millionen Dollar geschätzt. Leslie Day war am Ende.
Zwei Wochen nach diesem Gespräch laufen Leslie Day und ihr Anwalt nervös im Gang des New Yorker Staatsgerichts auf und ab. Sie hat den jungen, indischstämmigen Advokaten Rehan Nazrali über ihre Kirchengemeinde gefunden. "Ich habe den Fall angenommen", sagt der, "weil ich glaube, dass wir Präzedenz gegen solche Praktiken setzen können." In dem Fall würden aus reiner Gier die Schwächsten der Gesellschaft ausgenutzt, sagt der Mann, dem sein blauer Anzug von der Stange an den Beinen zu kurz und an den Schultern zu weit sitzt. Nazrali will den Richter davon überzeugen, dass der Mietvertrag eine verdeckte Hypothek ist, und so erreichen, dass die neuen Hauseigner seine Mandantin nicht einfach auf die Straße setzen.
Die Gegenseite ist mit zwei Anwälten angerückt. Die Herren der New Yorker Kanzlei Belkin, Burden, Wenig & Goldmann tragen Maßanzüge aus Kammgarn, die Frage nach einem Interview beantworten sie mit dem Hinweis, dass sie 800 Dollar pro Stunde bekommen. Ihr Klient, Yudel Kahan, ist Partner in einer der größten Immobilienfirmen New Yorks, Lev Developments. Bekannt ist die Gruppe dafür, dass sie nach dem 11. September ehemalige Bürohäuser an der Wall Street und am Ground Zero preiswert und subventioniert gekauft und Luxus-Apartmenthäuser umgewandelt hat.
Nach langem Warten auf knarzenden Holzbänken ruft Staatsrichter Tingling die drei Anwälte in seinen Saal. Kaum fünf Minuten später kommt Nazrali mit besorgter Miene wieder heraus und nimmt Leslie Day zur Seite. Der Richter hat angeordnet, dass sie bis zum Nachmittag 11.000 Dollar Mietrückstand auf den Tisch legen muss. Ansonsten würde er den Fall gar nicht erst aufnehmen. "Ich glaube Leslie wird sich damit abfinden müssen, dass sie das Haus verliert", flüstert Nazrali, während seine mandantin allein an einem Fenster steht und grübelt. "Das Beste, was wir tun können, ist, die andere Seite so weit zu bringen, dass sie mit uns über einen Vergleich verhandelt."
Doch Leslie will nicht so leicht aufgeben. "Können wir den Richter nicht um Aufschub bitten? In 48 Stunden kann ich die 11.000 aufbringen", bedrängt sie ihren Anwalt. Nazrali stößt einen tiefen Seufzer aus und läuft dann rüber zu den vornehmen Kollegen, die am anderen Ende des Gangs stehen. Zehn Minuten später sitzen alle wieder vor Richter Tingling. Mit dem Einverständis von Kahans Leuten gewährt er die Frist. Leslie Day hat noch einmal ihren Kopf aus der Schlinge gezogen. Vorerst.
In der Zeit nach dem Gerichtstermin spitzt sich in New York die Subprime-Krise weiter zu. Das Finanzhaus Bear Stearns kollabiert, die Stadt muss wegen mangelnder Steuereinnahmen Polizisten entlassen und den Ausbau der U-Bahn verschiebt. Läden schließen, an Häusern, die noch vor Wochen keinen Tag auf dem Markt gewesen wären, hängen wochenlang die "For Sale"-Schilder. Die Restaurants sind leer, die fetten Jahre sind vorbei.
Trotzdem, Leslie Day ist guter Dinge. Sie sitzt in der Sonne auf den Stufen ihres Hauses. Wie viele New Yorker hat sie das Gefühl, dass die Stadt wieder ein wenig menschlicher wird, dass vielleicht durch die Krise mehr Platz für die kleinen Leute wird.
Ihr vorsichtiger Optimismus wird durch gute Nachrichten in ihrem Fall genährt. Die Mitglieder ihrer Kirchengemeinde haben zusammengelegt und fristgerecht die 11.000 Dollar für sie bezahlt. Sie hat einen neuen Termin bei Richter Tingling, bei der letzten Anhörung hatte sie den Eindruck, dass er diesmal wirklich zugehört hat. "Er fängt glaube ich an, zu verstehen, worum es hier geht und was wir für Leute sind", sagt sie und blinzelt in die Sonne.
Nachdem Leslie den Termin für ihr Gerichtsverfahren bekommen hatte, erzählt sie, habe sie vor lauter Freude Leute zum Essen einglanden. "Es war das erste Mal seit vielen Jahren. Es gab zwar nur Pappteller und wir haben auf Kisten gesessen, aber es hat sich wie Zuhause angefühlt." Dass es noch ein weiter Weg ist, bis das Haus tatsächlich wieder ein richtiges Heim ist, weiß Leslie allerdings. Erst muss sie das Gerichtsverfahren auch gewinnen. Dann muss sie die Hypothek, in die der Mietvertrag gegebenfalls umgewandelt wird, abbezahlen. Und natürlich muss sie weiter zwei Jobs machen, um Geld für die Renovierung beiseite zu legen, die sich wohl noch Jahre hinziehen wird. Der Alptraum ist noch lange nicht vorbei. Aber es besteht zumindest die vage Hoffnung, dass Leslie Day eines Tages wieder daraus erwacht.
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