: Ein Modell wird geschleift
Fast protestlos wird Schwedens Sozialstaat demontiert ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff
Es wird als ein politisches Lehrstück in die Schulbücher eingehen. Da schneidet eine konservative Regierung mit voller Unterstützung der sozialdemokratischen Opposition wesentliche Teile aus dem sozialen Netze, ohne daß hierüber auch nur die geringste politische Diskussion stattfindet oder sich der Hauch eines öffentlichen Protests erhebt. In gut zehn Tagen war das Kunststück über die Bühne — verpackt in zwei Krisenpaketen, die mit den europäischen Währungsturbulenzen im Umfeld der französischen Maastricht-Abstimmung begründet wurden.
Jetzt, nachdem alles unter Dach und Fach ist, gehen im einstigen sozialen Musterland die Gewerkschaften langsam auf Distanz zum beispiellosen Anpassungskurs der Sozialdemokraten. Doch zu rütteln ist allenfalls noch an den Stellen hinter dem Komma — etwa bei der Frage, ob statt des vorgesehenen Wegfalls von zwei Urlaubstagen nicht lieber der zweite Pfingsttag und/oder Christi Himmelfahrt zu Arbeitstagen umfunktioniert werden sollen. Doch die Hauptlinie steht fest: Das in Jahrzehnten aufgebaute, weltweit beispielhafte Sozialsystem Schwedens wird grundlegend um- und vor allem abgebaut.
So werden die Renten eingefroren, die versprochene Kindergelderhöhung gestrichen, das Wohngeld reduziert, und die geplante Reform der Versorgung von Behinderten verschwindet still und leise in der Schublade. Denn da für die bürgerliche Regierung höhere Steuern und Abgaben zum Abbau des Defizits im Staatshaushalt tabu sind, blieb nur der Weg über Ausgabenkürzungen.
Die einschneidendste Änderung wird dabei der Abschied vom System der staatlichen Gesundheitsvorsorge sein, die ab 1995 voll wirksam sein soll. Bis auf eine mehr symbolische Selbstbeteiligung sind Kranken-, Unfall- und Pflegeversorgung in Schweden derzeit kostenfrei, genauer: sie werden aus Steuermitteln finanziert. Das gilt auch für vom Arzt verschriebene Arzneimittel, und es gilt auch, wenn ein pflegebedürftiger alter Mensch, 80 Kilometer von der nächsten Krankenstation entfernt, allein in seinem Haus statt in einem Altersheim alt werden möchte und jeden Tag dreimal eine Krankenschwester zur Hilfe benötigt. Nach über 50 Jahren soll dieses System nun angeblich nicht mehr finanzierbar sein. Ein Krankenversicherungswesen nach deutschem Vorbild soll an seine Stelle treten.
Etwas in Schwierigkeiten sind die Reformer wider den Wohlfahrtsstaat freilich geraten, als eine Analyse ausländischer ForscherInnen mit dem Titel „Das schwedische Gesundheitswesen — das beste der Welt?“ veröffentlicht wurde. Deren Ergebnis: es gibt gar keine Krise. Das staatliche Gesundheitswesen hat keine niedrigere Produktivität als in vergleichbaren westlichen Ländern, es ist nicht teurer, sondern eher billiger. Alles in allem: „Die Probleme in Schweden sind geringer und werden auch wesentlich effektiver gehandhabt als in vergleichbaren europäischen Ländern.“
Retten wird dies das schwedische Modell wohl kaum noch. Denn letztlich bedeutet nicht die eine oder die andere Kürzung das Ende des schwedischen Sozialstaatmodells, sondern die dahinter stehende Philosophie. Und die haben sich in atemberaubenden Tempo auch die oppositionellen SozialdemokratInnen zu eigen gemacht. „Der endgültige Abschied vom Wohlfahrtsstaat“, kommentierte die dänische Tageszeitung Information. „Eine perfekte Anpassung an die EG — noch bevor man überhaupt Mitglied geworden ist.“
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