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Ein Leben ohne jeden Anpassungsdruck

In Brüssel hat die aramäische Exilgemeinde einen eigenen Platz fern der heimatlichen Diskriminierung gefunden

Im türkischen Eckladen im Brüsseler Europaviertel wird man auf Deutsch bedient. Die Schwiegertochter ist in Deutschland geboren und kam erst mit zwanzig als Braut hierher. Inzwischen spricht sie Französisch und kann auf Flämisch sagen, was der Einkauf kostet. Fast immer sind Verwandte von ihr im Laden, denn der weitverzweigte Familienclan hat sich in den Jahrhundertwende-Reihenhäusern angesiedelt, die den Kahlschlag für die Büros der Eurokraten überlebt haben.

Der Dialekt, in dem sich die junge Frau mit ihrer Schwiegermutter und anderen Landsleuten unterhält, klingt kehlig-rau, es könnte eine arabische Sprache sein, ganz sicher kein Türkisch. Auch das Marienbild an der Wand mit dem blutenden Herzen passt nicht ins Klischee vom türkischen Gemüseladen. „Wir sind Aramäer“, erklärt die junge Ladenbesitzerin stolz, wenn sie nach ihrem Idiom gefragt wird.

Zwar stammt der Clan ursprünglich aus dem Südosten der Türkei, doch sie ist, zweisprachig mit Aramäisch und Deutsch, in Deutschland aufgewachsen. Hier lebt, mit etwa 100.000 Mitgliedern, die größte aramäische Gemeinde in der Diaspora. Kaum mehr als 2.000 harren nach Schätzung des assyrisch-aramäischen Weltverbands in der ursprünglichen Heimat aus. Jahrhundertelange Verfolgung und Diskriminierung haben die meisten Aramäer vertrieben. Der türkisch-kurdische Krieg tat ein Übriges.

Auch wenn die Gemeinde in Brüssel viel kleiner ist als in einigen deutschen Städten: Die junge Aramäerin lebt viel lieber in Belgien. Der Lebensrhythmus sei ruhiger, der Anpassungsdruck längst nicht so groß. In den Ferien hilft ihr kleiner Bruder, der in Münster zur Schule geht, hinter der Ladentheke aus. Er teilt die Begeisterung seiner Schwester. Sobald er die Schule abgeschlossen hat, will auch er hierher ziehen.

DANIELA WEINGÄRTNER

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