: Ein Kommentar wie vor 50 Jahren
■ 'adn'-Attacke auf Konsistorialpräsident Stolpe, weil er sich in westdeutscher Zeitung zu Reiseregelungen äußere / DDR-Kirche bestürzt
Bestürzung hat in der evangelischen Kirche in der DDR ein Kommentar der staatlichen Nachrichtenagentur 'adn‘ ausgelöst, den am letzten Mittwoch das SED-Zentralorgan 'Neues Deutschland‘ sowie die meisten anderen DDR-Zeitungen nachdruckten. Der Kommentar enthält eine scharfe Attacke gegen den Ostberliner evangelischen Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, der sich jüngst in mehreren Interviews westdeutscher Medien unter anderem zu den neuen DDR -Ausreiseregelungen geäußert hatte.
In dem Angriff auf Stolpe, der auch stellvertretender Vorsitzender des evangelischen Kirchenbundes in der DDR ist, sehen kirchliche Beobachter in Ost-Berlin einen vorläufigen Höhepunkt der zahlreichen staatlichen Maßnahmen gegen die Kirche, zu denen es seit Januar 1988 gekommen war. Verwiesen wird zum Beispiel auf die wiederholten Verbote von Kirchenzeitungen oder die Zensureingriffe in deren redaktionelle Arbeit. Dennoch erinnert der Stil des 'adn' -Kommentares Kirchenvertreter an längst vergessen geglaubte Zeiten. „Da haben sie offenbar einen dran gesetzt, der das Kommentareschreiben in den 50er Jahren gelernt hat“, vermutete ein Kirchenmmann. In der Tat ist seit vielen Jahren nicht mehr in den staatlichen Zeitungen der DDR ein prominenter Kirchenvertreter in einer derartigen Weise angegriffen worden.
Der 'adn'-Schreiber wirft Stolpe, der sich zu dem Kommentar nicht äußern wollte, vor, er „verteile“ Interviews nach allen Seiten unter der Devise: „Hauptsache, es bleibt dabei etwas Schlechtes an der DDR hängen“. Dem evangelischen Präsidenten wird empfohlen, er möge seine Aufmerksamkeit „religiösen Belangen“ widmen. „Dies um so mehr, als gerade in der letzten Zeit seitens der Evangelischen Kirche mangelnder Besuch der Gottesdienste festgestellt wird.“ An anderer Stelle heißt es : „Herrn Stolpe sollte schon allein aus der Zeit seiner FDJ-Erfahrung bis zum heutigen Tage nicht entgangen sein, daß in der DDR volle Religionsfreiheit herrscht.“
Hinter der Verquickung von Religionsfreiheit und Gottesdienstbesuch verbirgt sich das Problem, daß gerade die evangelische Kirche in der DDR ihr politisches Mandat sehr ernst nimmt und damit bei Staatsvertretern Unmut hervorruft. Gekoppelt mit den Aktivitäten ihrer Basis, haben sich die Kirchenleitungen mit den drängenden Problemen, etwa der Ökonomie und Ökologie, oder auch mit der Ausreiseproblematik befaßt. Wurde ihnen schon diese „Einmischung“ in die Politik verübelt, so noch mehr, daß sie sich zu diesen Themen öffentlich zu Wort meldeten.
Die DDR-Fühurng, sagt ein Kirchenvertreter in Ost-Berlin, sei zur Zeit unter erheblichem Druck, vor allem auch ideologischem Druck. Durch die sowjetische Reformpolitik seien Staat- und Parteiführung verunsichert und versuchten, die Probleme durch eine sehr restriktive Informationspolitik unter der Decke zu halten. Daß sich die evangelische Kirche nicht an diese Spielregeln hält, daß etwa Manfred Stolpe Interviews in westdeutschen Medien gibt, die über Fernsehen auch in die DDR transportiert werden, scheint die DDR -Führung zunehmend zu verärgern. In Kirchenkreisen glaubt man, der 'adn'-Kommentar habe den Charakter eines Exempels. Er sei als Warnschuß vor den Bug des Kirchenschiffes gedacht, laut vernehmlich nicht nur für die Steuerleute, sondern auch für die Schiffspassagiere,.
Stolpe hatte in den Interviews Hoffnungen auf eine Verbesserung der Situation in der DDR geäußert. Unter anderem hatte er gesagt, die jüngst erlassene DDR -Reiseverordnung sei zwar noch nicht der Idealfall, aber sie sei das heute Mögliche. Mängel, Debatten oder Enttäuschungen dürften den großen Fortschritt nicht verdunkeln. Gute und gerechte Reiseregelungen spielten eine große Rolle für das Wohlbefinden der Bürger in ihrem Staat.
„Diese Verbreitung von Hoffnung“, sagt ein Kirchenvertreter in Ost-Berlin, „schafft Erwartungsdruck. Die Menschen erwarten, daß es besser wird.“ Diesen Erwartungsdruck aber wolle die DDR-Führung nicht. „Der Hoffnungsträger kriegt eins auf die Mütze, damit sich die anderen nicht zuviel versprechen.“ Offenbar, so dieser Kirchenvertreter weiter, habe die DDR-Führung gerade auch angesichts der jüngsten Vorgänge in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin Angst, Stolpes Äußerungen könnten eine „Sogwirkung haben, es könnten noch mehr Ausreiseanträge gestellt werden.
Kurios bei alledem ist, daß Manfred Stolpe in seinen Interviews nicht müde wurde, die neue Reiseverordnung der DDR nachdrücklich zu begrüßen. Diese Position der Ostberliner Kirchenleitung jedoch ist bei vielen Kirchenmitgliedern höchst umstritten, weil sie befürchten, die neue Verordnung beschere keine Wegvorteile, sondern bedeute einen Rückschritt.
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