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■ Ansprache des Präsidenten des Europäischen Verbandes der Vertriebenen und Flüchtlinge anläßlich der Verleihung der Großen Vertraulichkeitsmedaille an den Schriftsteller Günter Grass in Prag am 16. Oktober 2002„Ein Jahrzehnt blutiger Fehden“

Lieber Jubilar, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Präsident des Gesamteuropäischen Parlaments, meine Damen und Herren.

Europa hat ein Jahrzehnt des Schreckens und der Kriege hinter sich. Nicht Staaten lagen miteinander im Krieg, sondern Nachbarn. Menschen angeblich unterschiedlicher Religion, Rasse und Sprache meinten häufig, die jeweils anderen vertreiben zu müssen, damit es ihnen selbst endlich besserginge. Wir alle kommen aus einem europäischen Jahrzehnt der blutigen Fehden. In vielen unserer Städte rauchten noch die zerschossenen und verbrannten Häuser, als wir vor drei Jahren halfen, mühsam dieses neue „Gesamteuropa“ zu gründen. Bis heute sind die großen Flüchtlingslager, die über ganz Europa verstreut sind, nicht aufgelöst. Und bis heute ist der Frieden nicht gesichert. Unser Feind steht nicht außerhalb unseres Europa, unser bedrohlichster Feind ist unsere eigene jüngste Geschichte selbst: Die grausamen Erinnerungen in den Köpfen und Herzen von Millionen Kindern, Frauen und Männern, die Rachegefühle von Eltern oder Kindern. Wird das Trümmerfeld der Geschichte zum Steinbruch, aus dem die friedlichen Häuser des Wiederaufbaus gemauert werden, oder wird es noch einmal als Schleuderarsenal für die Rachewürfe neuer Feindschaften mißbraucht?

Ich freue mich, daß das Kuratorium für den Internen Frieden in Europa dem Europäischen Verband der Vertriebenen und Flüchtlinge vorgeschlagen hat, einem deutschen Schriftsteller und Dichter den ersten Preis zu verleihen für seine einzigartige Literatur der Wahrhaftigkeit und der Versöhnung. Günter Grass wußte, wovon er schrieb, als er nach der Vertreibung der Millionen Deutschen nach Westen sich an die Erinnerungsarbeit machte. Was der ungeheuren Anstrengung der Vorläufer unseres Verbandes, meine Damen und Herren, was dem deutschen Bundesverband der Vertriebenen nicht gelungen war, nämlich Verständnis und Interesse für die Vergangenheit der Deutschen im östlichen Europa zu wecken und in der ganzen Welt bekannt zu machen, das ist Günter Grass in großartiger Weise gelungen. (Beifall)

Ich weiß, daß die deutschen Vertriebenenverbände diese Leistung ihrer großen Autoren, wie Grass, Siegfried Lenz, Horst Bienek und viele andere, immer in gebührender Weise gewürdigt hatten. (Zwischenruf: „Das mußte ja mal gesagt werden!“) Wir erinnern uns, wie dankbar die damaligen Vertriebenen dafür waren, daß man Danzig, Westpreußen und Ostpreußen bis ins ferne Australien kannte, bis in die Länder Lateinamerikas, weil diese Autoren in alle Sprachen der Welt übersetzt worden sind. (Starker Beifall) Ich weiß das alles. Heute ehren wir Günter Grass. Die furchtbare Vergangenheit der jüngsten Zeit, das unendliche Leid der Vertriebenen der neunziger Jahre nötigen uns erneut Respekt ab vor der großen und vorbildlichen Leistung dieses deutschen Autors. (Beifall)

Es gibt keine Zukunft mehr ohne die Kultur des Zusammenlebens. Es gibt keine Zukunft ohne eine Erinnerungsarbeit, die sich um Frieden bemüht. „Künstler gegen Haß“ heißt eine ständig wachsende Initiative junger Musiker, Maler und Schriftsteller aus ganz Europa. Günter Grass und andere, die als junge Leute mit den Verbrechen des eigenen Volkes und der Vertreibung ihrer eigenen Landsleute fertigwerden mußten, sind heute die leuchtenden Vorbilder dieser Initiative. (Starker Beifall, die Versammlung erhebt sich)

Ich verleihe dem deutschen Autor Günter Grass zu seinem 75. Geburtstag die Große Vertraulichkeitsmedaille der Gesamteuropäischen Union des Jahres 2002. Möge unser Freund und Jubilar noch viele Jahre unter uns weilen. (Beifall)

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