Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Tiefe Narben, keine Gerechtigkeit
Während der libanesische Staat auf allen Ebenen versagt, wird die Gesellschaft von einzelnen Initiativen zusammengehalten.
I n ihrer schwarzen Robe steht die Anwältin Maya Lamah in der Nähe der Allgemeinen Sicherheitsbehörde in der Beiruter Innenstadt. „Ich bin sehr traurig, dass Gerechtigkeit in unserem Land noch nicht erreicht ist“, sagt sie. „Ich wurde am 4. August verletzt. Ich habe überlebt. Es war ein Albtraum. Ich konnte nicht laufen, nicht sehen, nicht atmen. Ich bin nur durch ein Wunder noch am Leben.“
Im August letzten Jahres ist im Beiruter Hafen ungesichert gelagertes Ammoniumnitrat detoniert. Es war eine der schwersten nichtnuklearen Explosionen aller Zeiten, die über 200 Menschen tötete, mehr als 6.000 verletzte und das Zuhause von rund 30.000 zerstörte. Die Explosion hinterließ Traumata, Angststörungen, seelische und physische Narben.
Maya Lamah verlor zeitweise ihr Augenlicht, ihre Kopfhaut war gerissen, die Stirn komplett offen. „Ich hatte Verletzungen an den Händen und am ganzen Körper“, sagt Lamah. Sie schiebt den langen, weiten Ärmel ihrer Robe hoch. Glasscherben haben an den Unterarmen Verletzungen verursacht, die ein Jahr danach als Narben zu sehen sind. „Ich habe mit viel Glück überlebt“, sagt sie, „und deshalb bin ich heute hier: für die Menschen, die keine Chance hatten zu überleben.“
Am 4. August 2020 um 18.07 Uhr befand sich Lamah im Haus ihrer Freundin Tania Youakim. Beide Frauen sind 49 und Anwältin, spezialisiert auf Handelsrecht, sie demonstrieren gemeinsam an diesem ersten Jahrestag in der Beiruter Innenstadt. Das Haus hatte Youakim von ihren Großeltern geerbt. „Drei Monate lang wurde es restauriert. Elf Monate später ist alles in die Luft geflogen.“
Zunächst sei sie sehr wütend gewesen, sagt Youakim, wegen des Geldes, das sie investiert hatte. „Aber ich glaube, alles passiert aus einem Grund. Vielleicht wollte Gott, dass ich mein Haus elf Monate vorher restauriere. Denn trotz all der Schäden sind wir nicht gestorben. Hätte ich die Arbeiten nicht ausgeführt, wären die Decken vielleicht komplett heruntergekommen.“
Trotzdem musste sich Youakim eine neue Bleibe suchen. „Es gab keinen Meter mehr im Haus, wo wir noch hätten leben können. Ich musste alle Möbel in ein Warenlager bringen, weil wir nicht wussten, ob die Träger das Haus halten würden.“ Eine Freundin ihrer Schwester bot für den Übergang eine Wohnung an – mietfrei. Nun hofft Youakim, bald zurückkehren zu können, Gardinen und Lampen müssen noch angebracht werden.
Youakim bittet, sich für das Gespräch in den Schatten zu stellen. Sie hat Fieber, und ihr Arzt hat ihr empfohlen, nicht zu lange in der Sonne zu stehen. Dennoch ist sie am 4. August zur Kundgebung gekommen, als wäre es ihre Pflicht.
Zum ersten Jahrestag der Explosion schlossen Geschäfte, Banken und offizielle Einrichtungen. Krankenhäuser, in denen Mitarbeitende ums Leben gekommen sind und die von der Explosion stark beschädigt wurden, hielten Gottesdienste ab. Am Nachmittag, der wieder sehr schwül ist, ziehen Märsche von verschiedenen Punkten der Stadt aus zur langen Hauptstraße vor dem Hafen. Dort versammeln sich über tausend Menschen. Nachdem sie den Nachmittag und frühen Abend in der Hitze auf den Straßen verbracht haben, gehen viele von ihnen fertig und müde nach Hause. Nur wenige wagen sich vor das Parlament, wo sie mit Tränengas und Wasserwerfern vom Militär vertrieben werden.
Es zeigt sich in der Woche rund um den ersten Gedenktag besonders, wie anstrengend es ist, im Libanon durch den Alltag zu kommen. In den sozialen Medien mehren sich die Posts mit Videos von der orangefarbenen Riesenpilzwolke, mit Erinnerungsbildern von zerstörten Häusern, Glassplittern und Fotos der Opfer. „Ich bin sehr emotional“, sagt Youakim. „Es kommt mir so vor, als wäre es gestern passiert. Wenn ich die Fernsehbilder sehe, weine ich. Ich habe das alles noch nicht verdaut. Wir haben alle emotionale Schäden davongetragen.“ Lamah und Youakim schließen sich, beide in ihrer Robe, dem eingetroffenen Protestmarsch an.
Doch nicht nur Trauer treibt die Menschen am Jahrestag auf die Straße. Maroun Karam steht mit Gasmaske in der Hand am Sassine-Platz. Aus einem Lautsprecher dröhnen revolutionäre Lieder und Oden an die Stadt Beirut. Karam ist Aktivist der politischen Jugendgruppe Mintashreen. „Wir wollen Gerechtigkeit, und wir wollen die Wahrheit!“, sagt er. Für ihn ist der 4. August nicht nur ein Gedenk-, sondern ein Kampftag, an dem Druck auf die politische Klasse des Landes ausgeübt werden soll. Das Motto: Niemals vergessen, niemals verzeihen.
Denn noch immer fehlt von staatlicher Seite jegliche Aufklärung der Vorfälle. Journalistischen Recherchen zufolge war das Ammoniumnitrat, das seit 2014 ungesichert in der Halle am Hafen lagerte, für die schiitische Hisbollah gedacht. Diese ist Partei und Miliz zugleich, ihre Verbündeten sind der Iran und das syrische Regime.
Sprengstoff für die Hisbollah
Wie die libanesische Nachrichtenseite Beirut Observer aus prominenter französischer Quelle erfahren haben will, kamen verschiedene Geheimdienste und französische Sicherheitsbehörden zu dem Ergebnis, dass die Hisbollah die „völlige Kontrolle“ über den Hafen besitze. Die Organisation habe genug Mitarbeitende, um Transfers von Waffen und illegalen Substanzen und deren Lagerung im Hafen zu decken. Der Quelle zufolge führten die libanesischen Ermittlungen ins Nichts – aus Angst vor der Hisbollah und ihren Verbündeten.
Mindestens drei Minister, der Direktor der Staatssicherheit, der ehemalige Regierungschef sowie der Präsident sollen laut Recherchen von Journalist*innen sowie von Human Rights Watch von der gefährlichen Fracht gewusst, aber nicht gehandelt haben. Deshalb fordern die Demonstrierenden, die Immunität hochrangiger Beamten aufzuheben, damit diese befragt und strafrechtlich belangt werden können.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Menschen aus Wut und Frustration auf die Straßen gehen. Im Oktober 2019 protestierten Hunderttausende im ganzen Libanon gegen Klientelismus und Vetternwirtschaft, die das Land laut Weltbank in eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen weltweit seit dem Jahr 1850 gebracht hat. Die libanesische Währung hat über 95 Prozent ihres Wertes eingebüßt, Familien müssen monatlich für Lebensmittel das Fünffache des Mindestlohns aufwenden. Die UN schätzen, dass 78 Prozent der Menschen im Libanon in Armut leben, dabei trifft die Krise syrische und palästinensische Geflüchtete besonders hart.
Wohl kaum ein Einzelschicksal kann exemplarisch dafür stehen, was die Menschen im Libanon kollektiv durchleben: die Hoffnung der größten Massenproteste des Landes 2019 auf ein Ende des Klientelismus und die Euphorie der Aussöhnung der Konfessionen auf den Straßen, 30 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs. Die Ernüchterung, dass auch eine neue Regierung keine Reformen durchbringen wird und monatelang keine Einigung mit dem Internationalen Währungsfonds erzielt, um Finanzhilfen zu erhalten. Der rasante Währungsverlust der libanesischen Lira, die steigenden Lebensmittelpreise, der Verlust von Arbeitsplätzen, dazu die Coronapandemie und dann die Explosion, nach der die Regierung geschlossen zurücktrat – und noch immer hat sich kein Nachfolgekabinett gebildet.
Währenddessen hat die Zivilgesellschaft die Aufgaben des Staates übernommen. Umweltingenieur*innen setzen Gullydeckel aus recyceltem Kunststoff auf Löcher in Straßen, weil die Gullydeckel geklaut wurden, um sie gegen Geld an Schrotthändler zu verkaufen. Frauen sammeln ehrenamtlich Gelder, um Menstruationsprodukte zu spenden. Über Whatsapp- und Facebook-Gruppen organisieren Libanes*innen Lebensmittel- und Medizinspenden.
„Wir können uns nicht auf unsere Regierung verlassen – aber die Gesellschaft ist sehr stark“, sagt Nadine Kheshen. Die 33-Jährige hat die kanadische Staatsbürgerschaft, arbeitet aber im Libanon als Menschenrechtsanwältin und kümmert sich um ihre Großeltern. Ihr Großvater, 88 Jahre alt, brauchte einfache Medikamente für seine Nierenerkrankung, doch in keiner Apotheke waren sie auffindbar. Ein Apotheker erklärte der Familie, das Medikament sei „abgeschnitten“. Das kann heißen: Die Regierung subventioniert die Pillen nicht mehr, Menschen horten sie, oder sie werden nach Syrien geschmuggelt und dort für mehr Geld verkauft. „Ich dachte, ich habe keine andere Wahl, als den Libanon zu verlassen und diese Medikamente woanders aufzutreiben “, erzählt Kheshen. „Ich habe mich so geärgert, dass ich auf Twitter darüber geschrieben habe. Ich wollte einfach, dass die Leute wissen, wie schwierig die Situation im Libanon ist und dass nicht jeder wie ich das Privileg hat zu reisen und diese Medikamente vielleicht woanders herzuholen.“
Laut Verband der libanesischen Medikamenten-Importeur*innen sind die Importe im Juni fast vollig zum Erliegen gekommen. Der Mangel an Devisen erschwert die Bezahlung ausländischer Lieferant*innen. Über den Post fand Kheshen einen hilfsbereiten Menschen, der ihr das Medikament aus Russland schickte.
Es mangelt an allem
Der Libanon profitiert von seiner Diaspora. Die wird immer größer, denn viele Menschen verlassen das Land, in dem sie keine Perspektive sehen. So auch gut ausgebildete Pflegekräfte und Ärzt*innen, die der Libanon dringend braucht, erzählt die Medizinstudentin Zeinab Sleiman. Sie arbeitet auf der Coronastation des öffentlichen Rafik-Hariri-Krankenhauses, leistet dort bis zu 24 Stunden Bereitschaftsschicht, für die sie nach altem Umrechnungskurs bezahlt wird. Das heißt, ihr Einkommen ist um 95 Prozent geschrumpft.
Junge Ärzt*innen verdienen im Schnitt umgerechnet unter 200 US-Dollar im Monat. „Viele meiner Kolleg*innen planen zu gehen, wenn nicht jetzt, dann nach einer Weile“, sagt Sleiman. „Es ist wirklich frustrierend, das Land zu verlassen, nach allem, was wir gegeben haben. Die wirtschaftliche Situation und die medizinische Lage ermutigen nicht gerade zum Bleiben. Das Hauptproblem sind aber unsere niedrigen Gehälter und die geringe Wertschätzung.“
Die libanesische Ärztekammer schätzt, dass seit 2019 etwa 1.000 der 15.000 registrierten Ärzt*innen das Land verlassen haben. Die Medizinstudentin Sleiman denkt nicht daran wegzugehen, obwohl alles dafür spricht. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Das will ich nicht aufgeben.“
Die Menschen sind erschöpft. Und hin und her gerissen in der Frage: Sollen wir gehen oder bleiben? Wer bleibt, dem liefert der Staat nur maximal zwei Stunden Strom am Tag. Die restliche Zeit muss mit teuren Generatoren überbrückt werden, die benzinbetrieben sind. Doch auch Benzin geht aus, aufgrund von Devisenmangel.
Eine Chance für eine Verkehrswende?
„Jeder Tag ist ein Kampf um die Grundbedürfnisse: Zugang zu Essen, zu unserem Geld in den Banken, zu Elektrizität und Treibstoff“, sagt die Umweltingenieurin Elena Haddad. Die junge Frau kämpft für eine weitere Sache: Mobilitätsgerechtigkeit. Seit 2014 engagiert sie sich mit ihrer NGO The Chain Effect für Radfahrinfrastruktur und besseren Nahverkehr. „Es gibt durchaus Alternativen zum Auto“, sagt Haddad. „Es stimmt zum Beispiel nicht, dass wir keinen öffentlichen Nahverkehr haben. Es gibt informelle Busnetze, darauf machen wir aufmerksam.“
Nach Angaben ihrer Organisation sind 80 Prozent der Bevölkerung auf private Autos angewiesen, 18 Prozent auf Taxis und nur 1,7 Prozent nutzen den informellen Bus. Weniger als 1 Prozent gehen zu Fuß oder radeln. Aufgrund der Notsituation sind immer mehr Menschen auf alternative Verkehrsmittel angewiesen. „Wir bekommen immer mehr Anfragen“, sagt Haddad, „wo es Fahrräder zu kaufen gibt oder ob wir Lichter ausgeben können, damit es sicherer ist.“ Haddad steht vor einer Brücke, oben rasen Autos, eine Etage drunter fahren Motorräder und laufen Fußgänger*innen. Haddad tunkt einen Pinsel in einen Eimer mit hellblauer Farbe und malt einen Stern. Sie und ihr Team schmücken die Brücke mit einem bunten Muster, zuvor haben sie den Müll eingesammelt, später wollen sie Lichter anbringen und den Platz vor der Brücke begrünen. So möchten sie die Menschen anregen, die Nachbarschaft zu Fuß zu erkunden, und ein bisschen Farbe in das schwierige Leben bringen.
„Ich glaube nicht, dass Fahrradfahren die Lösung für die Benzinkrise ist“, sagt Haddad. „Aber es ist Teil der Lösung und muss Teil eines vernetzten Verkehrssystems sein.“ Die Umweltingenieurin sieht keine Benzin-, sondern eine Transportkrise. „Seit rund 50 Jahren gab es keine Investitionen oder strategischen Planungen seitens der Entscheidungsträger in Bezug auf öffentliche Verkehrsmittel“, erklärt sie. „Bahn- oder Buslinien wurden einfach von der Karte gestrichen.“ Obwohl der öffentliche Sektor unterfinanziert ist, setzt Haddad auf die Zivilgesellschaft, den Wandel voranzubringen.
Welchen Handlungsspielraum der Initiativen sieht sie, wenn der öffentliche Sektor unterfinanziert ist und außerdem der Staat komplett versagt? „Der Libanon bekommt viel Geld von außerhalb“, sagt Haddad. „Wir haben aber eine inkompetente politische Klasse, die dieses Geld verschwendet hat. Deshalb müssen wir sicherstellen, dass das Geld nicht gestohlen wird, sondern zum Beispiel die Weltbank Druck macht, dass es tatsächlich in Infrastrukturprojekte fließt.“
Internationale Geldgeber*innen betonten bereits vor der aktuen Krise, dass es Geld an den Staat nur gegen Reformen gebe. Noch am Gedenktag der Explosion verkündete Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, er habe bei einer Geberkonferenz 300 Millionen Euro für humanitäre Dringlichkeitshilfe gesammelt. Allerdings fehlt dem Land seit einem Jahr eine Regierung.
Ein Hoffnungsschimmer sind die Parlamentswahlen im nächsten Jahr. Zivilgesellschaftliche Gruppen und säkulare Parteien wollen sich zu einem Wahlblock zusammenschließen – um so die traditionelle Führungsriege abzulösen, die aus etablierten, konfessionell geprägten Parteien besteht. Diese sind seit Ende des Bürgerkrieges 1990 an der Macht, ihre führenden Köpfe waren Warlords im Krieg. Insgesamt 16 Gruppierungen wollen 2022 einen großen Oppositionsblock gründen. Darunter sind viele, die bei den Massenprotesten 2019 mitgemacht haben, auch die Gruppe des Aktivisten Karam gehört dazu. Womöglich ergibt sich dann ein erneutes Momentum für Wandel im Libanon – und neue Hoffnung auf Gerechtigkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich