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Ein Hund hilft zurück ins Jetzt

In den USA finden kriegstraumatisierte Soldaten mit Hilfe von Hunden wieder ins Leben. In Deutschland sind solche Projekte vor allem für Privatpersonen noch rar.

Ist bei aufkeimender Panik sofort da: Golden Retriever Bolle. Bild: Kaeding

KIEL taz | Sie hat die Hände in den Schoß gelegt. An den Tischen neben ihr beißen fremde Menschen in belegte Frühstücksbrötchen und schlürfen Kaffee. Sie spricht leise, aber kräftig. Und doch scheint jedes Wort ein bisschen zu zittern. Ihre Sätze klingen wie ein gesprochener Balanceakt auf einem Seil, gespannt zwischen dem plötzlichen Aufklirren abgestellten Geschirrs und der Erinnerung. Ein Willenskampf.

Sie möchte Silke S. genannt werden, und in ihrem Kopf können Aufregung oder äußere Reize das Kindheitserlebnis plötzlich aufwecken und zurückholen. Silke S. ist 40 Jahre jung und sagt: „Ich will wieder teilhaben am Leben.“ Manche machen ihr genau das schwer.

Der medizinische Begriff lautet: posttraumatische Belastungsstörung. Das ist eine Erkrankung, die äußerlich nicht zu erkennen ist. Der Kampf gegen die Erinnerung tobt im Kopf. Außer dem Betroffenen bekommt kaum jemand mit, dass er abdriftet. Vielleicht passiert es im Supermarkt, wenn Silke S. überlegt, ob sie Kellogg’s Choco Krispies oder Froot Loops kaufen möchte. Neben ihr steht zufällig ein weiterer Kunde. Flashback. Entführung in die Vergangenheit. Der Mann merkt nichts von Silkes Veränderung. Von ihrer Panik. Vom Erstarren.

Früher wäre sie ohne Lebensmittel geflüchtet und dann nicht mehr aus dem Haus gegangen. Heute hilft Bolle. Silke greift sich an ihren Hals. Das Zeichen für Hilfe. Ein Blick, ein Halbsprung, und sachte klopfen zwei Tatzen an ihre Brust. Eine nasse Zunge hechelt ihr ins Gesicht. Aus dem Zeitnebel taucht das Müsli-Regal auf. Froot Loops?

Im Allgemeinen läuft die Ausbildung zum Assistenzhund 18 bis 24 Monate, erklärt Kati Zimmermann, Ausbilderin und Vorsitzende des Vereins Servicehunde Deutschland. Die Kommandos werden auf die Person und ihr Trauma abgestimmt. Der Hund fängt mit einem Jahr an, nachdem er den Grundgehorsam verinnerlicht hat.

Bolle ist jetzt 14 Monate. Zuerst wurde dem Golden-Retriever-Rüden beigebracht, bei Silke das Licht an- und die Tür aufzumachen. Danach kamen die gehobenen Befehle. Bei „Guck“ dreht er sich nach hinten um und sichert ab. Sagt Silke „Blocken“, stellt er sich quer vor sie, beschützt und schafft Distanz. Tritt Silke in ihren verwinkelten Keller, heißt es „Such Mensch!“ Bolle geht vor, schaut, riecht, und schlägt an, sollte sich jemand im Dunklen versteckt haben.

Das tun Assistenzhunde

Pionier der Assistenzhund-Ausbildung sind die USA, wo es auch die meisten Studien sowie die verlässlichsten Quellen über Qualitätsstandards gibt - z. B. ADI (Assistance Dogs International). Inzwischen gibt es auch Projekte in Europa - wie dasjenige von Servicehunde Deutschland e. V.

Eingesetzt werden Assistenzhunde als Blindenführhunde, Behinderten-Begleithunde, Warnhunde, die z. B. vor Unterzuckerung warnen, Hunde für Gehörlose, Epilepsiehunde sowie Hunde für Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen.

Hilfe leisten die Tiere vor allem im Alltag. Sie bringen Gegenstände, öffnen oder schließen Türen, holen Hilfe, räumen Waschmaschinen aus.

Trainiert werden die Tiere in speziellen Zentren. Info: www.servicehunde-deutschland.net.

Der Preis der Ausbildung liegt zwischen 4.000 und 25.000 Euro. Manche Zentren ermöglichen eine Ansparfinanzierung, viele akquirieren über Stiftungen und Öffentlichkeitsarbeit Spenden.

Sparsam sind die Hunde für das Gesundheitssystem: Betroffene brauchen bis zu 30 Pflegestunden weniger pro Woche und weniger Medikamente.

Essenziell für das Funktionieren des Teams von Herrchen und Hund außerhalb der eigenen vier Wände ist, dass der Hunde in Geschäften an kein Regal geht und schnuppert. Bolle hat das schnell begriffen. Tritt Silke S. mit ihm aus dem Haus, tragen beide eine gelbe Warnweste. Auf Bolles Weste ist ein roter, achteckiger Aufnäher genäht: „Nicht stören, ich arbeite.“ Dazu gehört an diesem Vormittag ein Trainingsrundgang im Sophienhof in Kiel.

Silke drückt die Glastür eines Bekleidungsgeschäfts auf und geht mit Bolle hindurch. Beide marschieren sittsam weiter, vorbei an Warentischen in eine hintere Ecke des Geschäfts. Fühlt Silke Beklemmung aufsteigen, sagt sie: „Ausgang.“ Bolle dreht sich um und zieht sie mit. „Feeein, Feiiiiiiin.“ Bolle bleibt stehen, kurz vor der Glastür. Silke lacht nachsichtig. „Ich habe zu früh ’Fein‘ gesagt.“

Nach einer halben Stunde ist Schluss mit Training. „Es ist unheimlich anstrengend, beide müssen sich sehr konzentrieren,“ sagt Trainerin Zimmermann. „Wir trinken erst einmal einen Kaffee zur Erholung.“ Silke kramt im Rucksack. Sie holt eine Aluminiumflasche hervor, auf der „Princess“ steht, und füllt das Wasser in einen rosa Plastiknapf. Sie reicht ihn herunter zu Bolle, der am Tischbein liegt und den Kopf auf die Pfoten abgelegt hat. Mittagspause.

„Er merkt manchmal eher als ich, dass es mir schlecht geht“, sagt Silke. Beim Training ist es zum Beispiel schon vorgekommen, dass Bolle unaufgefordert zu ihr lief. Zimmermann fragte Silke dann: „Geht es dir schlecht?“ Und tatsächlich, ja, sie war auf dem Weg in ihre Vergangenheit. „Das musst du mir sagen!“ Silke antwortete verdutzt: „Ich merke es selber erst jetzt …“

Dass plötzlich jemand an ihrer Seite ist, der sie wohl besser kennt als sie sich selbst, ist für sie ungewohnt. „Vorher musste ich ja immer versuchen, mein Unwohlsein zu unterdrücken, damit ich überhaupt einkaufen gehe.“ Alltagsarbeiten erledigte sie unter massivem Stress. Im Bus fuhr sie bis zur Endhaltestelle mit, weil sie sich vor plötzlich einsetzender Angst nicht mehr bewegen konnte. Jetzt tapst ihr in solchen Fällen Bolle an die Brust. „Ich will ihn nicht missen“, sagt Silke. Mit ihm an ihrer Seite fühlt sie sich sicher. Mittlerweile geht sie in Cafés und hat sogar das Kieler Planetarium besucht. Die Leute dort seien sehr freundlich und aufgeschlossen gewesen.

Das ist nicht immer so. Das Theater Kiel zum Beispiel will Bolle nicht reinlassen. Kein Eintritt für Hunde. Es gehe um „Abwägung verschiedener Interessen“, heißt es. Gäste könnten allergisch auf Hundehaare reagieren. Silke kann diese Haltung gegenüber einer Behinderten mit Assistenzhund nicht nachvollziehen. „Sollen wir denn zu Hause bleiben? Das habe ich lange genug getan.“ Sie würde auch abseits Platz nehmen, wenn nötig, schließlich will sie niemanden stören. Das Theater bot ihr als Alternative eine Freikarte für eine Begleitperson an.

Aber kann eine Begleitperson eine Panikattacke antizipieren, die der Betroffene mitunter selbst nicht nahen sieht? „Nicht einmal meine Freundin würde das merken,“ sagt Silke. Bolle ist ein „Hilfsmittel“, und eben so interpretieren sie und der Verein Servicehunde Deutschland die UN-Behindertenkonvention. Ihr zufolge muss Menschen mit Behinderungen Zugang zu allen Lebensbereichen gewährt werden – auch dann, wenn sie dazu ein Hilfsmittel benötigen. Einem Rollstuhlfahrer, sagt Silke, nehme man am Eingang ja auch nicht den Rollstuhl.

Doch für das Theater Kiel scheint das Urteil gesprochen. Hundetrainerin Zimmermann überreichte dem kaufmännischen Direktor des Theaters, Jörg Sturm, zum Dank kürzlich den symbolischen Negativpreis für Diskriminierung: den „Goldenen Würger“.

Bei ihrer Krankheit könne man schnell den Blick auf das Gute und Leichte im Leben verlieren, erzählt Silke. Bolle habe ihr die Lebensfreude zurückgegeben. Wenn sie sehe, wie er sich auf den Rücken werfe … „So viel gelacht wie in den vergangenen Monaten habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht.“ Sie braucht ihn, und ebenso braucht er sie. Abends, wenn Bolle nochmal vor die Tür will, muss Silke mit. Im Bett liegen bleiben, sagt sie, gibt es nicht mehr.

Als die beiden das Café des Bäckers verlassen, zieht der Retriever in seiner Warnweste die Blicke einiger älterer Flaneure auf sich. Sie lächeln, bleiben stehen und wollen ihn anfassen. Bolle beachtet sie nicht, er fixiert sein Frauchen. „Wir sind ein Team“, sagt Silke.

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