: Ein Hamas-Führer auf dem Weg zum Realpolitiker
■ Aus einem isralischen Gefängnis dirigiert Scheich Jassin die palästinensischen Islamisten auf moderateren Kurs / Hamas soll sich an Autonomie-Wahlen beteiligen
Kairo (taz) – Entwickelt sich die islamistische Palästinenserorganisation Hamas vom Spielverderber zu einem Mitspieler im nahöstlichen Friedensprozeß? Scheich Ahmad Jassin, religiöser und politischer Chef der Organisation, scheint aus einem israelischen Gefängnis heraus Hamas auf einen neuen Kurs steuern zu wollen. In einem kürzlich von der libanesischen Wochenzeitschrift Al-Wasat veröffentlichten Gespräch mit einem arabischen Knesset-Abgeordneten sowie vier in Briefen, die Jassin dem Magazin schickte, schlug der wegen eines angeblichen Mordaufrufs gegen palästinensische Kollaborateure zu lebenslanger Haft verurteilte gelähmte Scheich ungewohnt moderate Töne an.
In dem Gespräch, das der Abgeordnete der Demokratischen Arabischen Partei Talab Sania bereits am 1.Oktober mit Jassin führte, drohte dieser einerseits mit weiteren Anschlägen gegen israelische Soldaten. Andererseits deutete er für den Fall, daß sich die Israelis vollständig aus den 1967 besetzten Gebieten zurückziehen, die Bereitschaft an, alle bewaffneten Aktionen einzustellen. Jassin hält für diesen Fall einen „Waffenstillstand von zehn bis 20 Jahren“ für möglich. Dieses – wenn auch vorsichtige – Waffenstillstandsangebot deutet für Hamas-Kenner eine Wende in der Politik der Organisation an. Bisher hatte Hamas die „Befreiung des gesamten islamischen Bodens“ gefordert, was eine Anerkennung des Existenzrechts Israels ausschloß.
Die Positionsveränderung wird in den Briefen bestätigt. Darin faßt der 55jährige seine „gegenwärtigen Gedanken“ zusammen, die „noch nicht endgültig ausgefeilt“ seien. Jassin stellt die Teilnahme von Hamas an den im Gaza-Jericho-Abkommen zwischen der PLO-Führung und der israelischen Regierung ausgehandelten Wahlen zu einer kommunalen Selbstverwaltung in Aussicht. Den Anachronismus, das Abkommen abzulehnen, sich aber an dessen Umsetzung zu beteiligen, erklärt Jassin so: „Wir kämpfen gegen das, was gerade vor sich geht auf der Straße, warum sollten wir das nicht auch innerhalb legitimer Institutionen tun, die geschaffen werden, um in Zukunft das palästinensische Volk zu vertreten?“ Ohne es direkt auszusprechen, springt Jassin mit Hamas so auf den Gaza-Jericho-Zug auf.
Die Entwicklung hatte sich schon bald nach der Unterzeichnug des Abkommens zwischen der PLO und Israel abgezeichnet. Hamas-Vertreter kritisierten, der Vertrag enthielte keine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge, die Frage Jerusalems und der israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Bereits mit dieser Kritik an Details begab sich die Organisation auf eine pragmatische Ebene, die ein Abkommen mit Israel nicht mehr grundsätzlich ausschloß. Der anschließend zwischen Hamas und der PLO vereinbarte „Nichtangriffspakt“ war ein weiteres Indiz dafür.
Hamas spekuliert auf ein gutes Wahlergebnis
Die Wende Jassins zu einer eventuellen Beteiligung an den zukünftigen Gremien des Gaza-Jericho- Abkommens, wenngleich offiziell zu dessen Bekämpfung, belegt erneut eine seit Jahren gepflegte Strategie von Hamas: Anstatt sich in Sackgassen zu verrennen, versuchen die Islamisten sich möglichst viele Wege offenzuhalten.
Hinzu kommt, daß Hamas-Kandidaten bei den Wahlen passable Chancen eingeräumt werden. Laut einer aktuellen Umfrage des Zentrums für palästinensische Forschung und Studien in Nablus wollen sich in der Westbank 73 Prozent und im Gazastreifen 62 Prozent der Palästinenser an den Wahlen zu palästinensischen Autonomiebehörden beteiligen. Hamas-Kandidaten bekämen laut der Umfrage in beiden Gebieten durchschnittlich 14,6 Prozent der abgegebenenStimmen. Sollte das Abkommen schließlich zu einem unabhängigen Palästinenserstaat führen, wäre Hamas dann schon in den entsprechenden Gremien vertreten. Auch ein Bündnis zwischen der moderat-bürgerlichen Fatah- Bewegung Jassir Arafats und Hamas auf Kosten der linken Gruppierungen innerhalb der PLO wäre langfristig nicht ausgeschlossen. Bliebe dagegen der Weg zum eigenen Staat verschlossen, könnte sich Hamas darauf berufen, schon immer gegen das Abkommen mit Israel gewesen zu sein. Dies wäre die große Stunde der Islamisten. Karim El-Gawhary
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