piwik no script img

Ein Gulag im Paradies

Auf der heutigen Touristeninsel Goli Otok errichteten jugoslawische Titoisten 1948 ein Straflager für italienische Stalinisten/ Ein verdrängtes Kapitel aus der linken Geschichte  ■ Von Claudio Magris

Sie gehört zu den vielen Odysseen, die unser Jahrhundert geprägt haben, nur Joseph Roth könnte sie beschreiben, der Dichter der Verstoßenen und Verlorenen der Geschichte. Heute beschäftigen sich die Spezialisten der Widerstandsbewegung damit — mit der Geschichte des politischen Zusammenstoßes von Stalin und Tito. Größeren Historikerkreisen ist diese Odyssee nicht bekannt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es an der italienischen Ostgrenze die bekannte, aber heute ebenfalls verdrängte Auswanderungswelle von Jugoslawien nach Italien. 300.000 Personen, fast alle italienische Arbeiter, verließen die von Jugoslawien besetzten Regionen Istrien, Fiume und Dalmatien und zogen sich nach Italien zurück. Aber es gab auch umgekehrte Auswanderungsbewegungen: Sie waren zwar viel kleiner, aber in ihren Auswirkungen weit bitterer und komplizierter. 1947 beschlossen etwa 2.000 italienische Arbeiter aus Monfalcone und aus anderen Gemeinden der Isontischen und der Friaulischen Tiefebene, mit ihren Familien nach Jugoslawien überzusiedeln. Sie wollten zur Verwirklichung des Sozialismus beitragen — in einem Land, das sich selbst von den Nazifaschisten befreit hatte und das dabei war, unter der Flagge des Kommunismus etwas Eigenes aufzubauen. Dieses Land, in dem einige von ihnen bereits brüderlich als Partisanen gekämpft hatten, war durch die Kriegswirren stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber es war das einzige benachbarte Land, in dem der Kommunismus zu nahen schien, das Ende der Ausbeutung und Unterdrückung.

Die Mitarbeit am Aufbau des realen Sozialismus war für diese Arbeiter wichtiger als die Zugehörigkeit zu einem Staat oder zu einer Nation. Allein die Idee des Sozialismus wog alle dem Verlassen des eigenen Landes verbundenen Schwierigkeiten auf, lohnte die Mühen und Opfer. Sie kamen mit ihrem Enthusiasmus in das vom Krieg verwüstete Land, das zudem wirtschaftlich und sozial zurückgeblieben war, das die Narben des monarchistischen Regimes trug und die der neuen Politik (die unter anderem die Landwirtschaft ruiniert hatte). Die Immigranten brachten eine hohe berufliche Qualifikation mit. Die meisten suchten sich Arbeit bei den Industrieanlagen in Fiume, andere bei den Schiffswerften oder im Schiffsbau bei Pola, einige siedelten sich in Zentraljugoslawien an. Im Unterschied zu fast allen anderen und auch zu vielen ihrer neuen Kollegen und Kameraden arbeiteten sie nicht nur, um zu überleben, sondern sie lebten, um am Aufbau einer neuen Welt mitzuwirken. Wahrscheinlich hatten die kommunistischen Politiker Friauls die Auswanderung moralisch unterstützt, allein schon, um ein Gegengewicht zu den von Istrien nach Italien einwandernden Menschen zu schaffen. Insgesamt handelte es sich jedoch um eine Entscheidung ideologischer und ideeller Natur, einen kategorischen Imperativ des Klassenbewußtseins.

Odyssee ohne Heimkehr

Viele dieser Nachfahren des Odysseus, die die glückliche Rückkehr nach Hause nicht erleben sollten, wurden und werden mittlerweile dem Dunkel des Vergessens entrissen. Vor einigen Jahren schon hatte Franco Giraldi Zeugenberichte für eine Fernsehdokumentation gesammelt. Besonders engagiert in der Sache ist heute das „Instituto della Storia del Movimento di liberazione“ (Institut für die Geschichte der Befreiungsbewegungen) in Venetisch- Friaul unter Galliano Fogar. Das Institut wird demnächst eine reichhaltige Dokumentation, zusammengestellt von Alfredo Borelli, veröffentlichen. Borelli, ein Piemontese und seit seinem 17. Lebensjahr in der italienischen KP engagiert, war selbst nach Jugoslawien übergesiedelt. In den fünziger Jahren wurde er verhaftet und des Landes verwiesen.

Eine der bestürzendsten Geschichten ist die von Radovan Ilario Zuccon, die Alfonso Botti zusammengetragen hat, und die 1987 in der Zeitschrift 'Qualestoria‘ veröffentlicht wurde: Die „Monfalconer“ — wie sie genannt wurden — arbeiteten hart. 1948, kurz vor dem Bruch Titos mit der UdSSR, blieben sie der sowjetischen Linie, das heißt Stalin und der Regierung, treu. Die „Monfalconer“ glaubten an Stalin und vertrauten ihm blind, Unorthodoxien und Abweichungen ließen sie nicht zu. Es war eben dieser Glaube gewesen, der es ihnen möglich gemacht hatte, gegen den Faschismus und den Nazismus zu kämpfen, in vielen Fällen auch Gefangenschaft und Folter in den deutschen Lagern zu überstehen und dem kommunistischen Jugoslawien zuliebe alles zurückzulassen. Hatte nicht auch Gilas gesagt, daß ohne Stalin nicht einmal die Sonne so scheinen könne, wie sie scheine?

Jetzt war Jugoslawien in ihren Augen eine Verräterin der Revolution und der Befreiungsbewegung, in den Augen des jugoslawischen Regimes jedoch waren sie die Verräter. Die Partie auf dem Schachbrett der Weltgeschichte wurde zu einer Partie um Leben und Tod. Das Jugoslawien unter Tito, dem das unschätzbare Verdienst zukam, den ersten kapitalen Dolchstoß gegen die stalinistische Barbarei gewagt zu haben, kämpfte seinerseits gegen diese Gefahr mit nicht weniger barbarischen Mitteln. Aus Angst vor Putsch und Verschwörungen verfolgte es die Stalinisten und schoß dabei wild um sich, ohne sich um die vielen Nonkonformisten zu scheren, die auf der Strecke blieben. Mit stalinistischen Methoden errichteten sie ihre eigenen Gulags.

In diesen Gulags landeten — neben jugoslawischen Stalinisten, normalen Delinquenten, Kriegsverbrechern und ehemaligen Mitgliedern der Ustascha1 auch die „Monfalconer“, die nicht das Glück hatten, des Landes verwiesen zu werden. Und die — fast ausnahmlos — ihrem ursprünglichem Glauben treu blieben. Die Gulags wurden an verschiedenen Orten in Jugoslawien errichtet, in einigen Fällen wurden sogar ehemalige Gefangenen- oder Vernichtungslager aus der Zeit der Monarchie und der Ustascha übernommen, die seinerzeit für Kommunisten vorgesehen waren (in Melada, in Molat in Kroatien; es gab auch ein Konzentrationslager, das von den Faschisten errichtet worden war, das jedoch unter Tito nicht wieder benutzt wurde).

Die beiden schlimmsten und auch noch heute berüchtigsten Lager wurden von Titos gnadenlosem Innenminister Rankovic eingerichtet: in Goli Otok (zu deutsch: Nackte oder Kahle Insel) und Sveti Grgur (St. Gregor), zwei unbewohnten und kahlen Inseln im Quarnaro. Steinige Inseln, von gleißendem, unerbittlichem Weiß. Die Lager Goli Otok und Sveti Grgur — wie auch die anderen Lager, zum Beispiel das serbische bei Sremska Mitrovica — waren die Hölle. Augenzeugen berichten von Isolation, Hunger, Prügel, beißender Kälte, mörderischer Zwangsarbeit und Foltermethoden wie dem Kopf in der Kloschüssel. Aber die perverseste Folter war die „Selbstkritik“: Wer Selbstkritik üben wollte, mußte sich beweisen, indem er Lagergenossen, die sich ihrerseits der „Selbstkritik“ verweigerten, schlug und folterte.

Kürzlich wurde in der Zeitschrift 'Battana‘, dem Organ der italienischen Minderheit in Jugoslawien, die in Fiume erscheint, der Roman Martin Muma von Ligio Zanini veröffentlicht: die tragische Autobiographie eines Mannes, der das geliebte Meer verläßt, um in den Freiheitskampf zu ziehen und in der Hölle von Goli Otok endet. Zanini erzählt mit größter Nüchternheit und beschreibt unter anderem die Ankunft der Deportierten auf der Insel: Die Neuankömmlinge mußten im Spießrutenlauf die Reihen der bereits Inhaftierten passieren. Die prügelten auf sie ein und bejubelten gleichzeitig Tito und die Partei: „Tito — Partija! Tito — Partija!“. Wer sich widersetzte, wurde mit „Boykott“ bestraft: Er wurde vollkommen isoliert und war den Gewalttätigkeiten eines jeden schutzlos ausgesetzt.

Einige der nach Goli Otok verbannten Kommunisten seien hier genannt — ich zitiere dabei aus der Dokumentation des Institutes: Radovan Ilario Zuccon, der im Faschismus von einem Sondergericht als Kommunist verurteilt worden war und in Buchenwald saß; Adriano dal Pont, Partisan; Volmaro Buttignon, Partisan und kommunistischer Gewerkschaftler; Elvino Posselt, umgekommen durch Folter und Krankheit; Cristian, dem das Rückgrad verkrüppelt wurde; Pietro Renzi, Spanienkämpfer, der nicht an Selbstmord, sondern an Selbstermordung starb; Andrea Casassa, Mailänder Partisan und kroatischer Minister. Viele kamen um, mußten grausam und grundlos leiden, nicht zu reden von der Verlassenheit, Armut und Schinderei, der sie ausgesetzt waren, gebrandmarkt von infamen Behauptungen und jeglicher sozialen und rechtlichen Absicherung beraubt. Gilas, der Goli Otok besuchte und die Insel als „den beschämendsten Schandfleck des jugoslwischen Kommunismus“ bezeichnet, behauptet, daß die Parteispitze keine Ahnung hatte von den Zuständen in den Lagern.

Das ist schon deshalb wahrscheinlich, weil der Mechanismus der Verfolgung durch die Lagergenossen, den die Lagerleitung in Gang gesetzt hatte, jene Gewaltexzesse unter den Gefangenen selbst zur Folge hatte, die die Lagerleitung nicht zu verantworten brauchte und nicht kontrollieren konnte. Andere verantwortliche jugoslawische Politiker — zum Beispiel Kardelj — versuchen, Goli Otok damit zu rechtfertigen, daß in der damaligen politischen Situation jedes Aufkeimen von Opposition oder stalinistischer Subversion habe vermieden werden müssen. In der Tat hat das Tito-Regime später in der Regel einen wesentlich progressiveren und freiheitlicheren Kurs vertreten. „Wo gehobelt wird, da fallen Späne“, hat Hegel verächtlicht bemerkt, eine Argument für Anwendung von Gewalt, wo die Geschichte dies verlangt. Ohne sich allzuviele Gedanken darüber zu machen, ob der Hobel jemanden trifft, der nichts mit der Sache zu tun hat. Ideologen und Politiker wiederholen dieses Argument gern — wenn sie sich sicher sind, daß der Hobel sie nicht treffen wird.

Eine Handvoll Späne

Jahrelang schienen die unerschrockenen und unbeugsamen Gefangenen der Nackten Insel wie eine Handvoll Staub der Vergessenheit anheimgefallen zu sein. Keiner mochte von den Monfalconern reden, die nach Goli Otok geraten waren und trotz des grausamen Gulags nicht aufgegeben hatten. Warum Jugoslawien darüber nicht sprach, war klar. Die Sowjetunion wiederum und ihre Satelliten, Parteien und Staaten, diffamierten Tito mit jeder denkbaren Verleumdung, aber sie erwähnten die Gulags nicht, um nicht die Aufmerksamkeit auf die noch zahlreicheren und schlimmeren im eigenen Land zu lenken. Die westlichen Mächte wollten Tito nicht anfechten oder in seinem Kampf gegen Stalin schwächen. Italien war, wie immer, „reichlich abgelenkt“ — wie es Noventa in einem Vers ausdrückt.

Lagerinsassen, die Anfang der fünziger Jahre nach Monfalcone zurückkehrten, fanden sich Einschüchterungen und teilweise antikommunistischen Aggressionen von seiten ultranationalistischer Italiener ausgesetzt; ihre Häuser waren zum Teil istrianischen Flüchtlingen übereignet worden — bitteres Symbol eines doppelten Exils. Mit der Zeit hatte nicht einmal mehr die italienische KP Interesse an diesen allzu treuen Anhängern. Die Zeiten hatten sich geändert, und die Monfalconer drohten, zu einem Klotz am Bein zu werden. Sie waren einem peinlich, man schämte sich ihrer, denn sie erinnerten an die einst vertretene prostalinistische, gegen Tito gerichtete Position der Partei.

So standen diese Menschen immer auf der falschen Seite der Geschichte, sowohl im räumlichen als auch im zeitlichen Sinne, abseits der Politik. Sie fanden sich in einer grotesken und tragischen Situation wieder. Denn wenn der Stalinismus — die Sache, an die sie glaubten und für die sie menschliche Würde und moralische Festigkeit bewiesen hatten — gesiegt hätte, wären auf der Welt noch viel mehr Gulags entstanden, um Menschen wie sie zu zermalmen.

Heute entdeckt man ihr heldenhaftes und ernüchterndes Schicksal wieder. In Jugoslawien erscheinen Bücher und Artikel über Goli Otok, zum Beispiel in der Zeitung 'Voce del Popolo‘, die in Fiume erscheint. Jeden Tag schildert Giacomo Scotti hier genau und eindringlich eine dieser Begebenheiten am Rande der Weltgeschichte. Dieses historische Gedenken sollte nicht nur zur Erinnerung an die Leiden oder zur Demaskierung ideologischer Illusionen und zur Anklage gegen Ungerechtigkeiten dienen, sondern auch und vor allem als Erinnerung an die Entschlossenheit, den Mut und die Kraft, die es den Monfalconern und ihren jugoslawischen Genossen erlaubte, überhaupt Widerstand zu leisten — auch wenn dies im Namen einer Sache geschah, die noch viel schlimmer war als die ihrer Verfolger. Selbst wenn wir ihren Glauben nicht teilen, müssen wir ihr moralisches Erbe annehmen. Gott ist tot, der Glaube ist hin. Aber wehe, wenn deshalb auch die menschliche Würde verlorengeht, die Hingabe an eine Sache von überpersönlichem Interesse, die Treue, der Mut, die diesen Glauben formten.

Heute, so Giacomo Scotti über die Insel von Arbe im kroatischen Rab, bringen Boote Touristen und ehemalige Gefangene nach Goli Otok. Die Hotelprospekte werben: „Die Insel des Friedens, umgeben von sauberem Meer, von makelloser Schönheit und bezaubernder Ruhe, die Insel der totalen Freiheit“.

Copyright: 'Corriere della Sera‘, 19. 8. 90

Aus dem Italienischen von

Felicitas Hillmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen