: Ein Fest für Otto
■ „Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa“ - die erste Ausstellung des Deutschen Historischen Museums
im Berliner Martin-Gropius-Bau
Von Christel Dormagen
In dem Maße, wie in den siebziger Jahren das Private politisch geworden war, rückte zunehmend eine Sorte Literatur nach vorne auf die Buchladenschautische, die sich „Verständigungstexte“ nannte und in der die unterschiedlichsten Partialgruppen der Gesellschaft einander und der Öffentlichkeit kundtaten, daß es sie gab, daß sie es schwer und ein Recht darauf hatten, mit ihren Schwierigkeiten „angenommen“ zu werden. Diese vorwiegend autobiographischen Texte verstanden sich als Aufklärung darüber, wie subjektive Befindlichkeiten gleichzeitig den Zustand einer Gesellschaft beschreiben.
„Aufklärung und Verständigung über die gemeinsame Vergangenheit ist die Devise des Deutschen Historischen Museums“, schreibt Christoph Stölzl, Direktor eben dieses seit seiner Gründung vor drei Jahren umstrittenen Museums, im Geleitwort des Katalogs zur „ersten großen Schau“ (Stölzl), der Bismarck-Ausstellung.
Die angedeutete Verbindungslinie über den Begriff „Verständigung“ einmal unterstellt, wären Thema und Konzeption dieses „Gesellenstücks“ (Stölzl) des noch immateriellen, da ortlosen Großprojekts Deutsches Historisches Museum durchaus konsequent und plausibel: Unsere „gemeinsame Vergangenheit“, also die eines imaginierten deutschen Volkskörpers, bündelt sich wiederum exemplarisch im Lebensweg eines „großen einzelnen“ (Lothar Gall, wissenschaftlicher Leiter der Ausstellung). Zumal sich die AusstellungsmacherInnen in Kenntnis neueren Geschichtsverständnisses ausgesprochen wachsam geben, was die Gefahren biographischer Hagiographie angeht, und ihr Vorhaben entsprechend multidiskursiv formulieren. (Allerdings sei schon hier auf die treulose Sprache verwiesen. So schreiben Lothar Gall und Marie-Louise von Plessen in ihrem Vorwort unter anderem: „Sie (die Freiheit des Handelns in der Geschichte) ist viel kleiner, als historischer Heroenkult meint, dem diese Ausstellung als letztes dienen will.“ Will sie ihm nun nicht, zuletzt oder vielleicht doch vor allem dienen?)
In der Tat, das Unternehmen „Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa“ scheint angriffsicher hochgehängt. „Bismarck gleichsam in das 19. Jahrhundert zurückzuführen, in eine Epoche also, die von ihren Bedingungen, in ihren Zwängen und Verflechtungen selbst dem Geschicktesten und Einflußreichsten nur einen relativ begrenzten Spielraum ließ, ist eines der Ziele dieser Ausstellung. Ein anderes ist, jene Bedingungen, Zwänge und Verflechtungen selbst in den Mittelpunkt zu rücken und die Person und ihr Wirken aus ihnen zu erhellen und umgekehrt im Spiegel des Lebensweges dieser einen Person das Übergreifende sichtbar werden zu lassen“, schreibt der Historiker Gall.
Wer wollte da Einspruch erheben? Haben wir nicht in kluger dialektischer Aufklärungstradition gelernt, daß sich Geschichte nur in eben dieser Perspektivenbrechung wechselseitiger Abhängigkeitsrückkopplungen erhellen läßt? Und so haben wir durchaus auch Verständnis für die biographische Hilfskonstruktion des „großen einzelnen“ als Tribut an uns, das konkretionssüchtige Publikum.
Auch wenn die Wirkung von Ausstellungen immer vor allem auf ihren optischen Materialträgern beruht, so sind diese, zumal im Falle einer historischen Ausstellung, notwendig auf sprachliche Vermittlung angewiesen. Oder, um es noch schärfer zu formulieren: Erst in ihrer sprachlichen Formulierung, im Prozeß des Erzähltwerdens, erhalten amorphe Ereignisse ihre Form, wird aus ungebundenem Realitätsmaterial Geschichte. Geschichte liegt in den Händen und damit in der Macht ihrer Definierer. Nicht „Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa“ selber sprechen, beziehungsweise die zur visuellen Verfügung gestellten 1.100 Ausstellungsobjekte; es spricht auch nur bedingt deren Arrangement; vor allem sprechen die Erklärer dessen, was zu sehen ist, indem sie - vor aller Didaktik - anweisen, wie geschaut werden muß.
Insofern scheint es mir nicht nur legitim, sondern unbedingt notwendig, vor den Bildern die Erzählung der Bilder anzuschauen. Und ich weiß mich da in „großer“ Gesellschaft. Es war nämlich Bismarck, der die geschichtsschaffende Macht der Sprache nicht nur kannte, sondern in kühlem Kalkül und mit äußerster Wirksamkeit nutzte. Das berühmteste Beispiel dieser seiner Definitionsmacht - heute würde man von Informationspolitik sprechen - ist die Emser Depesche, die 1870 den deutsch -französischen Krieg auslöste und damit die Bedingungen der deutschen Reichsgründung 1871 schuf.
In dieser Depesche berichtete der König von Preußen seinem Ministerpräsidenten Bismarck aus Bad Ems von einem Zusammenstoß mit dem französischen Botschafter. Bismarck ließ die Nachricht von einer Beleidigung des Botschafters durch den König mit Eilpost in Europa verbreiten. Wenige Tage später erklärten die Franzosen den Krieg.
Zwanzig Jahre später, zwei Jahre nach seiner Abdankung (die schulbuchbekannte englische Karikatur „Der Lotse verläßt das Schiff“ heißt übrigens ursprünglich „Dropping the Pilot“, und das ist ein Subjektwechsel um 180 Grad), erklärt Bismarck in einem Zeitungsinterview zur Depesche: „Es ist so leicht, ohne Fälschung, nur durch Weglassen und Striche den Sinn einer Rede vollkommen zu ändern.“ In der Tat hatte der König in seinem „echten“ Telegramm berichtet, daß der Botschafter ihn beleidigt hatte. Die späte Aufklärung über Bismarcks Fake wurde bezeichnenderweise kaum zur Kenntnis genommen. Das Fake als multipler Wahrheitenproduzent.
Und was steht dazu im Katalog? „Bismarck sah eine günstige Gelegenheit, Frankreich als den Aggressor hinzustellen. Er brüskierte am 13.Juli 1870 mit der provozierenden 'Emser Depesche‘ die Regierung in Paris, woraufhin diese am folgenden Tage die Mobilmachung gegen Preußen verkündete.“ Das war's. Natürlich wäre es unangemessen, von einer nach thematischen Kapiteln untergliederten, historischen Kurzdarstellung von rund achtzig Seiten, die fast ein ganzes Jahrhundert zum Gegenstand hat, durchgängige Detailgenauigkeit zu verlangen. Allerdings ist die Reichsgründung nicht gerade irgendwas, sondern gilt immerhin als Bismarcks Lebenswerk. Und nicht zuletzt darauf gründen sich aktuellste neudeutsche Nationalstaatsphantasien.
Es geht hier nicht um den Vorwurf der Geschichtsfälschung an die Ausstellungsmacher. Fälschungen gibt es nicht; es gibt immer nur verschiedene Erzählungen, und die erzählen wiederum etwas über die Erzähler. Und da ist es doch bemerkenswert, wenn ich im umfangreichen zweiten Katalog der Ausstellung, der „Bismarck in der Karikatur des Auslands“ präsentiert, folgende Erklärung zu einer zufällig aufgeschlagenen französischen Zeichnung finde: „Bismarck verspritzt deutsche 'Jauche‘ in ganz Europa (...) Das gehässige Blatt spiegelt die schrillen Töne in der französischen Presse wider, die 1886 lebhaft den Revanchekrieg gegen Deutschland diskutierte. Derartige Gerüchte hatten Anfang 1886 neue Nahrung erhalten, nachdem General Boulanger unter dem Beifall der revanchelüsternen französischen Patriotenliga Kriegsminister geworden war.“ Das ist wohlgemerkt 1990er Sprache. In solch einer gehässigen Adjektivzuschreibung an den „Erbfeind“ erhält rückwirkend die Darstellung des Depeschenereignisses eine durchaus gezielte Bedeutung.
Um diesem erzählten Sinn weiter auf die Schliche zu kommen, werde ich aus den Grundsatzartikeln der KonzeptmacherInnen einige weitere Beispiele vorführen; immer in der Annahme, daß dieser Sinn sich als (unwillkürliche?) Wahrheit im Beiläufigen, Unterlaufenen mittels sprachlicher „Haarspalterei“ offenbart.
So schreibt Marie-Louise Plessen in ihrem Einleitungsaufsatz über die Bewegungen des 19. Jahrhunderts folgendes: „Kriege mit hohen Menschenopfern wurden geführt, um Einflußsphären zu wahren, um Einigungsbewegungen zu steuern und außenpolitische Machtkonstellationen zu sichern. Die Standbilder Alfred Krupps und Joseph-Eugene Schneiders weisen auf den Aufschwung der Schwerindustrie und des Rüstungskapitals in diesen Jahrzehnten hin. Doch es wuchsen auch die Bemühungen zur Verminderung der Kriegsfolgen durch die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes in der Genfer Konvention von 1864.“ Während sonst, entgegen aller Beteuerung, personal erzählt wird: Bismarck dachte, fürchtete, rettete, löste, beschloß, dämmte ein, organisierte, ahnte und einte..., verschwinden bei unerfreulichen Ereignissen die handelnden Subjekte in vagen Passivsätzen, dazu noch mit grammatikalisch falscher, aber eben erzählerisch wahrer Infinitivkonstruktion: „um zu sichern“ - wer sichert da gegen wen?
Außerdem wird in den drei Sätzen der auf der Hand liegende innere Bedingungszusammenhang von Macht-Krieg -Rüstungsindustrie und Rotem Kreuz in der neutralen Addition gezielt ausgesperrt. Und wo eine gedankliche Verknüpfung vorhanden ist, funktioniert sie nach dem Muster: Es gab viel Schlechtes damals, „doch es“ gab auch viel Gutes! Dafür verschwinden Menschen, die gegen Bismarck und das, was er repräsentiert, arbeiteten, hinter Abstraktionen wie „Parlamentarismus und Parteiensystem (...), Streiks und Arbeitskämpfen“, welche „neue politische Gewichtungen und Mehrheitsverhältnisse“ schufen, „an denen sich die Regenten und die Regierungen (...) zu orientieren hatten“. Geschichtssubjekte bleiben die Regenten!
Und wenn Lothar Gall schreibt, Bismarck sei ein „Kritiker der nationalen Idee, der den deutschen Nationalstaat gründete; engagierter Verteidiger der politischen und gesellschaftlichen Stellung des Adels, der deren Grundlagen unterminierte; Feind der Demokratie, der das demokratische Wahlrecht einführte - das bezeichnet nur einen Teil der Ambivalenzen dieses Lebens, das durch solche scheinbaren Unvereinbarkeiten geradezu charakterisiert wird“, dann ist das, so formuliert, einfach Quatsch. Denn die derart aufgereihten Scheingegensätze sind keine zum Tiefsinn anregenden rätselhaften „Ambivalenzen“, sondern eher Ergebnis Bismarcks hervorragender Taktierfähigkeit: Er machte sich die Methoden und Ideale der ideologischen Feinde so weit zu eigen, bis ihnen der Grund der Auflehnung enteignet war.
Die pseudowertfreie Auflistung des Einerseits-Andererseits wiederholt übrigens eine Denkfigur Bismarcks, von dem folgende in ihrer Logik ausgesprochen merkwürdige Einsicht überliefert ist: „Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht. Das habe ich indes mit Gott abgemacht. Aber Freude habe ich gar keine gehabt von allem, was ich getan habe, dagegen viel Verdruß, Sorge und Mühe.“ Das heißt doch: Ich habe viel Böses und viel Unglück verursacht; um die Schuldfrage muß ich mich nicht weiter kümmern; aber die Folgen dieser Verheerungen waren nicht schön für mich! Auch mit Sprache und Denken läßt sich regieren. Handlungen werden handhabbar, wenn man sie zerlegt, die Zusammenhänge ausblendet und ihren ethisch bedenklichen Gehalt so neutralisiert.
Zwei weitere kurze Beispiele mögen das belegen. Im erklärenden Kapitel zum Ausstellungsraum „Gründer und Reichsfeinde“ heißt es: „Bei den 1885 angeordneten Ausweisungen polnischer Zuwanderer spielte auch der sich immer stärker ausbreitende Antisemitismus eine Rolle: Ein Drittel der Vertriebenen waren Juden.“ Keine Rede davon, daß Bismarck aktiv an dieser „Ausbreitung“ Anteil hatte. So gab er 1884 seinem Innenminister folgende Anweisungen für Zeitungsberichte zu den Reichstagswahlen: Er wünsche, daß hervorgehoben werde, daß die Juden mit den Polen überall gemeinschaftliche Sache gemacht hätten; außerdem sei jüdisches Geld das Zahlmittel für die fortschrittlichen Republikaner gewesen. Er warnte allerdings vor Übertreibung: Wenn man zu offensichtlich den Antisemitismus billige, „so treibt man viel Judengeld in die Wahlkasse“. Schließlich dementierte er auch nicht seine in einer Zeitung veröffentlichte Äußerung: „Die Juden tun, was sie können, um mich zum Antisemiten zu machen.“ Die Opfer sind halt schon immer schuld gewesen!
Und zum Stichwort Kolonien: „Nach der Reichsgründung 1871 tauchte (...) die Frage nach der Notwendigkeit deutscher Kolonien in Übersee“ auf. Etwas weiter heißt es ebenso besinnungslos in der Sprache des 19. Jahrhunderts: „1884 schloß Gustav Nachtigal, ein erfahrener Afrikaforscher, im Auftrag Bismarcks mit dem König von Togo einen Schutzvertrag ab.“ Und der Übersichtsartikel der „Raumautorin“ - dreizehn dieser Themenräume gibt es insgesamt - endet mit dem Neutralstatement: „In der Folgezeit kam es in fast allen deutschen Kolonien zu Auseinandersetzungen mit Eingeborenen.“ Punkt, aus. Kein Kommentar der Autorin.
Kurzum, der unformulierte Tenor der sprachlichen Vorstellung eines Jahrhunderts klingt wie enthaltsames Staunen: Es war alles so schön bunt damals; so vielfältig und so widersprüchlich; so brüchig und so gefährlich; so schmerzlich und so extrem („Einblick in die Schattenseiten der Kriege“... Es gab also auch Sonnenseiten); aber auch so zukunftsweisend, blühend und so großartig.
In dieser bunten Fülle wird uns also das ganze „Kaleidoskop“ des Jahrhunderts als „Spiegel und Ausdruck des Ringens der verschiedenen geschichtlichen Kräfte“ präsentiert. Dazu sagt der Wiener Ausstellungsdesigner Boris Podrecca Beeindruckendes und Erhabenes: „Die Gestaltung der Bismarck-Ausstellung gründet auf dem Prinzip der Entschlackung, der Immaterialisierung der Ornamentsprache des 19. Jahrhunderts.“ Gall wie Stölzl wie Plessen wie Podrecca haben den unendlichen „Dialog“ im Sinn: die Ausstellung trete in Dialog mit dem Gebäude, die Dinge in einen Diskurs miteinander, die verschiedenen Ebenen halten Zwiesprache, Bismarck soll aus dem Zeitalter sprechen und das Zeitalter aus ihm...
Dieses Stimmengewirr bündelt sich, nach dem Wunsch des Designers, im Lichthof des Gropius-Baus. Wahrscheinlich ist kaum zu vermeiden, daß Großausstellungen heute - im Zeitalter der medialen Reproduzierbarkeit des gesamten Globus - nicht mehr nur hängen, stellen, setzen, legen können, sondern Sinnverlockung und Augenzauber betreiben müssen. Die Originale reden weniger denn je. Ohne Environment, ohne Show, kommt keiner mehr zu derlei Schau. Daß solche Megashows aus diesem Grund sowie wegen Versicherungen, Beschaffungsschwierigkeiten, Rahmenprogramm (das zur Bismarck-Ausstellung scheint übrigens interessant zu werden), Presseaufwand etc. immer teurer werden - diese kostete an die acht Millionen -, ist auch klar.
Solche inzwischen auf Massenkonsum ausgelegten Präsentationen müssen Wind machen. Deshalb erst mal nichts gegen die protzige Lichthof-Inszenierung; wenig auch gegen die hochtönenden Erlebnisanweisungen: „Die Rampe führt den Besucher auf einem ritualisierten Weg zu einer neuen Technik der Anschauung ihrer Mittel.“ Das alles ist Oper.
Nur ist halt das Schauergebnis dann auch opernhaft. Wie in der Oper reduziert sich die visuelle Erzählung auf schlichteste Archetypen: einer liebt eine; einer bringt einen um; einer prägt ein Jahrhundert. (eine schweigt und bewundert... d.S.) Wer auf einer Fläche von etwa 20 mal 20 Metern die Spannungen und Bewegungen eines Jahrhunderts metaphorisch vergegenständlichen will, der muß auf einfache Stereotypen zurückgreifen: Befreiungskriege, Reichsgründung, vierter Stand, Kommunistisches Manifest, Sozialistenverfolgung, Industrialisierung, Germanenkult, Blut-und-Eisen-Kanzler, nationale Idee, Bismarck -Mythisierung... Diese Stichworte hatte man schon vorher im Kopf.
Und der Rest? Dazu möchte ich eine Anzeige aus dem Jahr 1866 zitieren, die im extra gedruckten Ausstellungsjournal abgebildet ist. Die 'Illustrierte Zeitung‘ fragt sich und ihre Leser: „Wie werden wir all die kommenden Ereignisse auf den verschiedenen, weit auseinander liegenden Kriegsschauplätzen, wie werden wir die Illustrationen zur Kriegsgeschichte der Gegenwart in wahrheitsgetreuen Darstellungen und, gegenüber den gespannten Erwartungen, in rascher Aufeinanderfolge und ohne Beeinträchtigung der künstlerischen Ausführung unsern Lesern vorzuführen vermögen? Die Namen der auf die Kriegsschauplätze entsendeten, zum Theil in der Nähe derselben wohnhaften Maler (es folgen die Namen) sprechen dafür, daß wir mit Aufgebot aller Kräfte die an uns gestellte Aufgabe zu erfüllen gesucht.“
Und diese Leistungsschau „mit Aufgebot aller Kräfte“ wiederholen die Aussteller: mit einer unerschütterten Fünfziger-Jahre-Geschichtsdeutung („der von seinem Gottesgnadentum tief überzeugte König“), aber mit imposanterem multimedialem Guck-Material. 1.100 Leihgaben von rund 280 Museen, zum Teil aus „Feindesland“, sind versammelt. Man hat keine Kosten und Mühen gescheut (...in dieser, unserer historischen Stunde... d.S.), auf daß wir original und metaphorisch nacherleben mögen. Und natürlich gibt es für Kenner und LiebhaberInnen, von verarmten Seitenliniendamen ganz zu schweigen, erstaunliche Kostbarkeiten zu begutachten. Daß dabei die dramatische Inszenierung der Gegenstände - es sollte „Langeweile“ unbedingt vermieden werden - manchmal auf Kosten der Sicht und Lesbarkeit geht, sei nur nebenher angemerkt und als Trost Marie-Louise Plessen zitiert: „Wenn man schnell und langsam durch eine Ausstellung gehen kann, dann ist das immer ein positives Zeichen, daß sie eine eigene Geschichte hat.“ So viel zum Lohn der Mühe.
Ein Wort noch zu den veränderten „Rahmenbedingungen“. Ihren Einstand gibt die lange geplante und vorbereitete Ausstellung (und mit ihr das Deutsche Historische Museum) nach dem Umfall der Mauer und des real existierenden Sozialismus, zu einer Zeit, da Reichsgründungs- und Deutschland-Euphorie Hochkonjunktur haben. Das Museum, noch nicht real existierend (oder vielleicht schon nicht mehr, da es nun um seine Westwiderstands-Identitätsstiftung gebracht ist, wie sie ehedem von Schenker Kohl beabsichtigt war), denkt allerdings nicht ans Verschwinden. Direktor Stölzl jedenfalls liebäugelt nun mit einem „Forum für europäische Dinge“. Was sonst!
Selbstverständlich versichern die Macher, im Hinblick auf den fast zu schönen Termin: „Wer nun Sorgen hat, Titel und Veranstaltung könnten in diesem Herbst mißverstanden werden, sollte den Weg durch die Ausstellung machen. Hier ist nichts harmonisiert von den Brüchen und Spannungen der Epoche.“ Zielsicher allerdings und mit Instinkt fürs Volksgefühl steuerte die Berliner 'Bild'-Zeitung bei ihrer ersten Ankündigung der Ausstellung genau diese Koinzidenz an: Unter der begnadeten Überschrift „Fürsten-Tag im Museum - Alle echten Bismarcks kommen“ heißt es weiter: „Das Zusammentreffen der Termine ist voller Symbolik. In den Wochen, in denen das getrennte Deutschland wieder zusammenfindet, erinnert eine große Ausstellung an den 'Reichsgründer‘ Otto von Bismarck.“
Und in diesen zeitgenössischen Sog gerät in der Tat auch der Titel der Ausstellung. Anstatt, wie beabsichtigt, Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa als jeweils wechselnde Perspektiven auf ein Jahrhundert zu lesen, ist man, durch die Ausstellung auf einen gefährlichen Weg geführt, durchaus geneigt, das bedeutsam außen am Gropius -Bau auf eine Leinwand projizierte Bismarck-Auge zusammen mit dem Titel als Teleskop zu begreifen: Vom Sehzentrum eines Heroen aus geht der Blick weiter und weiter; der Raum wird größer und größer; wir werden mächtiger und immer mächtiger. Und bald gehört uns...
Die Ausstellung „Bismarck, Preußen, Deutschland und Europa“ ist bis zum 25. November im Berliner Martin-Gropius -Bau, jeweils dienstags bis sonntags von 10 bis 22 Uhr, zu sehen. Der Ausstellungskatalog (527 Seiten) kostet jetzt 30, später 40 DM; der Karikaturenkatalog (222 Seiten) kostet 20 DM.
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