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Ein Exodus hat nicht stattgefunden

Jürgen Fabritius zur Strukturanalyse des Stuttgarter Staatstheaters und über seinen Arbeitsbeginn in Eisenach/ Ein Interview  ■ Von Jürgen Berger

In Stuttgart steht das größte Dreispartentheater Deutschlands — ein Monstrum, das pro Spielzeit über 100 Millionen Mark verschlingt. In den achtziger Jahren stiegen die Ausgaben jährlich um sieben Prozent, während gleichzeitig die Zahl der Premieren und Aufführungen sank: „Mit immer mehr Aufwand wird immer weniger Theater angeboten“, heißt es denn auch in einer Untersuchung, die Jürgen Fabritius, ehemaliger Staatstheater-Direktor für künstlerische und technische Zusammenarbeit, Mitte letzten Jahres vorlegte. Er war von Generalintendant und Ex-Staatsrat Gönnenwein eigens geholt worden, um zu untersuchen, wo im Staatstheater gespart werden könnte — die Ergebnisse der Theateranalyse sorgten für Diskussionsstoff: Weil in vielen Bereichen des Theaters zu teuer produziert wird, schlägt Jürgen Fabritius die Teilprivatisierung des Theaterbetriebs vor. Nachdem er einigen Wirbel ausgelöst hatte, verließ Fabritius das Stuttgarter Theater und arbeitet seit dieser Spielzeit als Intendant am Theater im thüringischen Eisenach.

taz: Das Staatstheater Stuttgart arbeitet zu ineffizient. Wo liegen die Probleme?

Jürgen Fabritius: Wir haben nachgewiesen, daß die Produktion von Bühnenbild und Kostümen im Theater teurer als die Vergabe von Aufträgen an Privatfirmen ist. Ein Beispiel waren die genauen Kosten von Bühnenteilen zu Turrinis Minderleistern in der Spielzeit 88/89. In der Kalkulation einer Privatfirma in Nordrhein-Westfalen waren die Kosten etwa halb so hoch. Dasselbe haben wir bei Kostümen zum Fliegenden Holländer gemacht und sie teilweise auch wirklich von einer Privatfirma herstellen lassen. Auch hier war es um die Hälfte billiger.

Was wären die Konsequenzen?

Das Theater darf nicht mehr länger als ein Teil des öffentlichen Dienstes geführt werden, wenn es nicht irgendwann zum Kollaps kommen soll. In Stuttgart haben wir zum Beispiel bei den Bühnenarbeitern ein starres Zweischichtsystem. Das heißt: Im Großen Haus stehen immer 30 Bühnenarbeiter zur Verfügung, können zu bestimmten Zeiten des Tages aber gar nicht beschäftigt werden. Von 10 bis etwa 14 Uhr bräuchte man nur ein Drittel der Leute, und spätnachmittags sowie bei vielen Abendvorstellungen gilt dasselbe. Fazit: Wir bräuchten einen flexiblen Personaleinsatz, aber der wird am Staatstheater durch eine fünfzehn Jahre alte Vereinbarung zwischen Theaterleitung und Personalrat unmöglich gemacht. Der Personalrat ist in dieser Frage völlig unflexibel, und es bliebe nur der Weg, die Vereinbarung aufzukündigen, um den Personalrat an den Verhandlungstisch zu zwingen. Hierzu hat sich Generalintendant Gönnenwein allerdings nicht bereit gefunden.

Sie argumentieren für eine Teilprivatisierung, womit Entlassungen vorprogrammiert sind. Gewerkschaftlicher Widerstand dürfte Sie dann eigentlich nicht verwundern.

Man hat uns vorgeworfen, wir bereiteten die Entlassung von 500 MitarbeiterInnen vor, was aber unsinnig ist. Würde ein Privatunternehmer — und wir hatten bereits Interessenten, sogar aus dem Hause — einen Teil der Werkstätten wie die Kostümabteilung übernehmen, könnte es laut unseren Berechnungen passieren, daß er von 50 Mitarbeitern nur 45 übernimmt. Fünf Mitarbeiter müßten also vom alten Arbeitgeber in andere Arbeitsbereiche umgesetzt, umgeschult oder abgefunden werden. Dagegen steht, daß ein Mitarbeiter im Privatunternehmen mehr verdient als im öffentlichen Dienst und daß man Leistungsanreize zahlen kann.

Sie sagen auch dezidiert, daß sich im künstlerischen Bereich etwas tun muß, zum Beispiel: Die reisenden Regie- und Bühnenbildteams überziehen die projektierten Budgets nicht selten um das Doppelte.

Für diesen Mißstand sind hauptsächlich die Theaterleitungen selbst verantwortlich, sprich Schauspiel- und Opernchefs, und in Stuttgart auch der Generalintendant. Am Staatstheater wurde in manchen Fällen mit den Künstlern nicht oder nur im nachhinein über die Kosten einer Inszenierung gesprochen. Bei den Künstlern ist für die Überziehungen nicht selten undiszipliniertes künstlerisches Verhalten die Ursache. Daß das Theater da nicht durchgreifen kann, liegt auch daran, daß eine Überziehung des Budgets erst sichtbar wird, wenn die jeweilige Produktion auch herauskommen muß, damit im Theaterbetrieb kein Chaos entsteht. Die Konsequenz ist, daß in noch größeren Zeiträumen vorausgeplant werden muß. Wenn die „Metropolitan Opera“ in New York von Ausstattern verlangt, daß sie ihre Entwürfe ein Jahr im voraus vorlegen, dann beugen sich auch deutsche Künstler durchaus. Die lange Vorausplanung hat den Vorteil, daß man frühzeitig eingreifen kann, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen. Bei uns ist der Ablieferungstermin für Entwürfe immer noch vier Monate vor Produktionsbeginn.

Was verdient man in der Führungsspitze des Staatstheaters?

Das geht von 5.000 bis über 10.000 DM. Beim Schauspieldirektor, der Ballettdirektorin und dem Generalmusikdirektor kann es höher sein, weil Inszenierungen extra vergütet werden.

Muß ein künstlerischer Direktor mit Festgehalt noch einmal extra für Inszenierungen bezahlt werden? Hinzu kommt, daß Stuttgarts Schauspieldirektor Bosse zum Beispiel gerade in Zürich wirkt und auswärts dazuverdient.

Diese Spitzenengagements sind eine grundsätzliche Entscheidung für eine künstlerische Qualität. Die Summen, die dafür bezahlt werden, sind im Budget festgeschrieben und werden nicht hinterfragt, da sie vom Markt vorgegeben sind.

Sie haben Stuttgart verlassen. Warum sind sie gegangen und warum ausgerechnet nach Eisenach?

Die Arbeit in Stuttgart wurde für mich immer unbefriedigender. Ich konnte mit meinen Vorschlägen nichts bewirken. Hinzu kommt, daß es ungewiß war, ob das Eisenacher Theater geschlossen wird und ich meinen künstlerischen Ruf einbringen wollte, damit es nicht geschlossen wird. Ich habe jetzt die definitive Zusage des Rechtsträgers — das ist hier das Landratsamt —, daß das Theater finanziell so ausgestattet wird wie vergleichbare Theater in den alten Bundesländern. Unser Etat 1990 beträgt 5,3 Millionen Mark und wird in drei Jahren schrittweise den Standard eines mittleren westlichen Theaters von dann etwa 20 Millionen DM erreicht haben müssen. Um diesen Etat kämpfe ich im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen hier in Thüringen, und ich befürchte, daß das notwendig sein wird. Denn die alten Bundesländer und Bonn geben insgesamt zu wenig Geld für Kultur und die Theater, wohl wissend, was sie tun und in der Erwartung, daß in den neuen Bundesländern auf Landkreis- und Kommunalebene Selbstkastration stattfindet. Das Schlimme ist, daß in Sachsen und hier in Thüringen die Theaterleute Arbeitsgruppen gebildet haben und Vorschläge machen, welche Theater man schließen und welche Orchester man auflösen kann. Es ist unglaublich, daß Kollegen den Politikern in die Hand arbeiten, denn der Preis für den Übergang in die Marktwirtschaft darf niemals eine geringere kulturelle Infrastruktur sein als zu Zeiten des real existierenden Sozialismus.

Hat das Theater Eisenach im letzten Jahr sehr gelitten?

Ein Exodus hat nicht stattgefunden, aber in den Leitungsfunktionen fanden permanente Wechsel statt, und alles stagnierte. Ich habe derzeit keinen Disponenten, und so etwas wie Öffentlichkeitsarbeit oder ein Abo-System hat es nie gegeben. Für diese Bereiche muß ich mir wohl MitarbeiterInnen aus dem Westen holen.

Wäre es nicht sinnvoller, MitarbeiterInnen aus den neuen Bundesländern an diese Aufgaben heranzuführen?

In der Situation, in der wir jetzt sind, geht das nicht. Ich werde mit dem Ensemble arbeiten, und niemand wird in der nächsten Spielzeit entlassen. Den neuen Oberspielleiter des Schauspiels werde ich mir aus dem Westen holen, und auch bei den Regieteams in der Oper und im Schauspiel werde ich weitgehend auf Künstler aus dem Westen zurückgreifen.

Ein Oberspielleiter wird hier etwa die Hälfte dessen verdienen, was im Westen möglich wäre. Bekommen Sie da überhaupt jemanden?

Es haben sich sogar mehr dafür interessiert, als ich angenommen habe. Wer es wird, ist noch nicht spruchreif, aber drei Regisseure haben definitiv zugesagt: Jürgen Tamchina, Brian Michaels und Christian Kohlmann. Sie haben in Stuttgart gearbeitet, und ihre Gagen sind im Westen so horrend hoch, daß ich mich immer wieder frage, warum sie bereit sind, hier weit unter ihrem Gagenlevel zu arbeiten. Sie wollen auch nicht nur ein Exoten-Gastspiel geben, sondern längerfristig mit uns zusammenarbeiten.

Was verdient ein Schauspieler derzeit in Eisenach?

Eine mittlere Gage liegt bei 1.300 DM, die Höchstgage bei 2.000 DM brutto. Ich bin jetzt dabei, einzelne Gagen leicht anzuheben. In drei Jahren muß ein Anfänger bis 2.400 DM, ein Spitzenschauspieler bis zu 5.000 DM verdienen können.

Dieter Mann, Leiter des Deutschen Theaters in Ost-Berlin, soll 8.000 DM verdienen. Ist man Ihnen gegenüber genauso großzügig?

Meine Gage liegt deutlich darunter.

Möchten Sie nicht sagen, wie deutlich?

Nein.

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