Ein Buch zum Sterben: Überleben in der Möglichkeitsform

Neuer Erfahrunshorizont: Jenny Erpenbeck begleitet in „Aller Tage Abend“ eine Frau durch fünf mögliche Todesschicksale. Aber nicht in epischer Prosa.

Das Leben und das Schicksal: kann überraschend sein. Bild: andy-Q / photocase.com

„Aller Tage Abend“ – das ist im Grunde eher ein Gedicht- als ein Romantitel. Noch weniger als bei Jenny Erpenbecks letztem Roman „Heimsuchung“ lässt bei diesem neuen der Titel auf den Inhalt des Buchs schließen, das er ziert. Vielmehr ist er in seiner Vieldeutigkeit bereits eine Einladung zur Interpretation. Und so wie der Titel über den narrativen Gehalt des Romans hinausweist auf etwas weit Allgemeingültigeres, so ist auch die Prosa, die Jenny Erpenbeck schreibt, nicht wirklich eine epische Prosa.

Als narrativ in der äußeren Anlage, doch poetisch in der Grundmotivation ließe sich auch dieser neue Roman grob charakterisieren. Poetisch insofern, als auch die geschichtlichen Ereignisse, die hier verhandelt werden – und die 1967 geborene Autorin macht es wieder nicht unter einem Rundumschlag über das gesamte letzte Jahrhundert –, nicht nur als sie selbst auftreten, sondern in Erpenbecks überaus genau gesetzter Sprache gleichsam zeichenhafte Gestalt annehmen.

„Aller Tage Abend“ ist auch eine Umschreibung für das Ende eines menschlichen Daseins. Der erste Tod springt uns in diesem Buch fast gewaltsam von der ersten Seite an. Ein Kind ist gestorben, ein Baby noch, und „auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten und sollte unter die Erde“.

Es ist die junge Mutter des Säuglings, aus deren Perspektive hier erzählt wird. Sie imaginiert das Schulkind, das aus ihrem Baby hätte werden können, das junge Mädchen, die junge, die alte Frau. Dann geht sie nach Hause und setzt sich auf einen Schemel, um zu trauern. Ihr Mann verlässt derweil sie und die galizische Stadt Brody (eine kleine Hommage an Joseph Roth), in der sie bisher gelebt haben, und lässt sich von einem Schlepper zur Überfahrt nach Amerika überreden. Die kinderlose junge Mutter aber, die noch von einem weiteren Mann verraten werden wird, endet als Prostituierte in Wien.

Was für ein furchtbares Elend! Doch da überrascht der Roman mit einer anderen möglichen Erzählvariante. Er spinnt die Geschichte an jener Stelle neu fort, die alle beteiligten Schicksale entscheidend beeinflusst hat, und macht den Tod des Säuglings rückwirkend ungeschehen. Denn: Was wäre gewesen, wenn die Mutter, einer plötzlichen Eingebung folgend, eine Handvoll Schnee genommen und das Kind damit eingerieben hätte? Vielleicht hätte es überlebt, und alles wäre anders gekommen. Die Familie wäre nach Wien gezogen – und die als Baby so wundersam gerettete älteste Tochter hätte sich dann vielleicht mit achtzehn Jahren aus unglücklicher Liebe das Leben genommen.

Es sind fünf Erzählungen über fünf mögliche Todesschicksale ein und derselben Person, die zusammengenommen diesen Roman ergeben. Zum Schluss wird er einen langen Lebenslauf nachvollzogen haben: das Leben einer Frau, die, zu Beginn des Jahrhunderts in Galizien als Tochter einer Jüdin und eines Christen geboren, in der DDR zur hoch geehrten Staatskünstlerin wird und schließlich, als demente 91-Jährige vergessen, in einem Pflegeheim stirbt. Sie hätte ihr Leben jedoch nicht dort beenden müssen, wenn sie vorher, auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, unglücklich eine Treppe hinuntergestürzt wäre. Oder: Sie wäre nie eine berühmte Schriftstellerin geworden, wenn sie in den 40er Jahren in einem sowjetischen Straflager gestorben wäre.

Das alles ist, zum einen, ein existenzphilosophisches Gedankenexperiment, das der Annahme folgt, dass der einzelne Mensch zwar aufgrund individueller Veranlagung geneigt sein mag, den einen Weg eher einzuschlagen als einen anderen, dass aber ein entscheidender Moment oder eine Verkettung von Zufällen in der Lage sind, ein Schicksal grundlegend zu verändern – oder zu beenden. Und indem Jenny Erpenbeck erzählend den möglichen Todesschicksalen nachspürt, die ein Menschenleben in sich trägt, demonstriert sie gleichzeitig die Macht der Literatur. Denn durch ihr Erzählen wird jede dieser Varianten wirklich. Zwischen den einzelnen „Büchern“, wie die fünf Fortsetzungsmöglichkeiten bezeichnet werden, stehen überleitende Abschnitte, Passagen im eigentlichen Wortsinne, die im Möglichkeitsmodus des „Was wäre, wenn …“ gehalten sind. Und so folgt, obwohl in der wirklichen Wirklichkeit immer nur eine Variante gelten kann, in Erpenbecks literarischer Wirklichkeit eine mögliche Welt aus einer anderen. Und jeder Tod birgt, rückblickend, die nicht vollzogene Möglichkeit eines früheren Todes in sich.

Jenny Erpenbecks wachsame, im Erzähl-Augenblick so genau beobachtende Prosa vergegenwärtigt jedes dieser literarisch möglichen Leben so intensiv, dass sich niemals das Gefühl eines bloß spielerischen „Als ob“ einstellt. Jedes mögliche Leben ist in dem Moment wahr, da es erzählt wird. Und dennoch: Diese Form des literarischen Gedankenexperiments hält einen recht eigenartigen Trost bereit, den das nichtmodale lineare Erzählen nicht kennt. Beim Lesen tendiert man unweigerlich dazu, die tragischen Wendungen, die jeweils zum Tod der Hauptfigur führen, als nicht so schwerwiegend aufzufassen, da man früh begreift, dass es wohl auch nach dem gerade aktuellen Tod noch ein weiteres Leben geben wird.

Philosophie des Erzählens

Wenn es also eine der Aufgaben der Literatur sein sollte, einen geschützten virtuellen Raum zu bieten, in dem Grenzerfahrungen gleichsam probeweise emotional durchlebt werden können, so ist dies jedenfalls ein Roman, der über weite Strecken darauf verzichtet, in dieser Rolle Eindruck zu machen. Die emotive Kraft von Erpenbecks eindringlicher Sprache ist ungebrochen da, wird jedoch zum Teil aufgehoben durch den dominierenden gedanklichen Überbau. Es ist ein für einen Roman recht ungewöhnliches Spannungsverhältnis zwischen Narration und Reflexion, in dem nicht der philosophische Anteil aus dem Erzählten erwächst, sondern es eher umgekehrt zu sein scheint. Auch dadurch rückt dieses Buch in die Nähe zur Lyrik.

Im Gegenzug scheint ihm manches zu fehlen, das es zweifelsfrei zum Roman machen würde. Aber was? Eine Krise, eine Pointe, eine Erkenntnis? Sicherlich eine todernst gemeinte individuelle Entwicklung im schicksalhaft entscheidenden Sinne. Denn, wie gesagt, wo das Schicksal so oft im Möglichkeitsmodus angeführt wird, verliert es an epischem Gewicht.

Das alles spricht nicht gegen dieses Buch; eigentlich eher im Gegenteil. Wie ein Haus mit vielen aufeinanderfolgenden Geheimtüren, die normalerweise undurchdringlich wären, öffnet das Buch immer neue narrative Räume. Sich darin jeweils aufzuhalten ist durchaus anregend; das eigentliche Erlebnis aber ist das Hindurchgehen. Dieser Roman transzendiert die Beschränkungen einer einzelnen Existenz, einer einzelnen Erzählung, an die wir, im Leben wie im Lesen, gewöhnt sind, und erweitert die Wahrnehmung des menschlichen Daseins um den Möglichkeitsmodus. Die Figuren tragen, ganz nach Erpenbeck’scher Art, keine Namen, denn sie sind keine Individuen, sondern Schicksalsträger.

Der unbedingte literarische Existenzialismus, der Jenny Erpenbecks Werk durchzieht, mag vielleicht nicht jedermanns Sache sein. In „Aller Tage Abend“ aber hat er auf jeden Fall eine vollendete äußere Form gefunden. Erzählen und Denken sind hier eins. Wie selten das ist.

Jenny Erpenbeck: „Aller Tage Abend“. Knaus Verlag, München 2012, 283 Seiten, 19,99 Euro

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