Ein 27-jähriger Portugiese ist in Berlin verschwunden: Was geschah mit Afonso Tiago?
Vor drei Wochen ist der 27-jährige Portugiese in Berlin verschwunden. Familie und Freunde suchen mit Plakaten nach dem Vermissten - und befürchten doch Schlimmes. Die Polizei hat keine Spur.
Afonso Tiago ist weg. Vor drei Wochen, in der Nacht von Freitag auf Samstag, hat ein Freund ihn zum letzten Mal gesehen. Mit ein paar portugiesischen Kumpels war Tiago an diesem Abend im "Berghain". Er wollte nicht zu spät nach Hause kommen, am nächsten Tag war er zum Deutschlernen verabredet. Kurz nach halb vier Uhr morgens begleitete Tiago einen der Freunde zum Geldautomaten am Ostbahnhof, dann verabschiedete er sich. Er hätte nur über die Brücke nach Kreuzberg laufen müssen, in die Forster Straße, da ist seine WG. Doch Tiago kam nie an.
Catarina Tiago sitzt am Esstisch in der Berliner Altbauwohnung eines entfernten Cousins. Eine kleine Frau, 30 Jahre alt. Die langen, schwarzen Haare trägt sie ordentlich gestuft. Sie ist Afonsos Schwester. Eigentlich lebt Catarina Tiago in Lissabon, doch jetzt ist sie hier, um Afonso zu suchen. Tiefe Ringe unter den Augen verraten, es geht ihr schlecht. Doch sie spricht mit fester Stimme. "War es ein Überfall? Eine Entführung? Wir haben keinerlei Hinweis. Alles ist möglich."
Das Berghain ist bekannt für seine exzessiven Partys. Waren etwa Drogen im Spiel oder Alkohol? Nein, sagen die Freunde. Tiago habe an dem Abend im Berghain lediglich drei Bier getrunken. Auch dass er sich das Leben genommen hat, halten die Schwester und die Freunde für ausgeschlossen. "Ich habe Afonso an Weihnachten in Portugal gesehen. Er wirkte sehr zufrieden und erzählte begeistert von Berlin", sagt Catarina Tiago.
Einige Tage nach Tiagos Verschwinden hat die Polizei mit einer Hundertschaft den Görlitzer Park durchkämmt. Anfang Januar war die Spree zugefroren, möglicherweise wollte Afonso über das Eis laufen und brach ein. Taucher suchten im Fluss nach dem Leichnam. Nichts. "Bis jetzt haben wir keine konkrete Spur", sagt ein Polizeisprecher.
Was ist in jener Nacht passiert? Die Ungewissheit lässt viel Raum für furchtbare Gedanken. Um sie zu verscheuchen, halten sich die Schwester, der Cousin und die Freunde Afonsos ständig auf Trab. Sie hangeln sich von einer Aktion zur nächsten. Kleben Plakate, verteilen Flyer, geben Interviews. Auch portugiesische Medien berichteten über den Fall. "Jede Idee, die wir haben, setzen wir um", sagt der Cousin.
Am Klingelschild in der Forster Straße steht noch immer Tiagos Name. Auch im WG-Zimmer ist alles so, wie er es verlassen hat. Gestreifte Boxershorts hängen auf dem Wäscheständer vor dem Fenster. Pantoffeln stehen vor einem zerwühlten Bett. Auf dem Schreibtisch ein aufgeklappter Laptop. Als sei der Bewohner dieses Zimmers nur kurz Zigaretten holen gegangen.
Afonso Tiago lebte seit letztem Sommer in Berlin. Als studierter Maschinenbauingenieur arbeitete er bei einer portugiesischen Firma, die Linsen für Satelliten herstellt. Ab März sollte er einen längerfristigen Vertrag mit der Firma bekommen soll, erzählt der Cousin.
Freunde und Verwandte beschreiben Tiago als zuverlässig und verantwortungsbewusst. Er hörte gerne elektronische Musik, interessierte sich für Kunst. Oft traf er sich in der Oranienstraße mit seinen Kumpels, im Luzia oder im Bateau Ivre. Er mochte Kreuzberg, sein Viertel, die vielen verschiedenen Kulturen hier.
Oder müsste es eigentlich heißen: Tiago mag Kreuzberg? Wie schreibt man über einen Vermissten, im Präsens oder in der Vergangenheit?
Afonso Tiago telefonierte jeden Tag mit den Eltern in Portugal, erzählt die Schwester. Als er sich nach der Nacht im Berghain am Samstag nicht meldete, wurden sie unruhig. Am Sonntag war Afonsos Handy immer noch aus. Auch die WG-Mitbewohner wunderten sich. "Am Wochenende dachte ich noch, vielleicht hat er woanders übernachtet. Aber dann wurde das komisch", erzählt Federico, Afonsos deutschportugiesischer Mitbewohner. Am Montag riefen die Eltern bei der Firma an, Tiago war nicht zur Arbeit erschienen. Da alarmierten sie die Polizei und schalteten die Botschaft ein.
Die Berliner Freunde begannen sofort mit der Suche. "Wir sind alle Wege abgelaufen, die er gegangen sein könnte", sagt Federico. Nicht nur die Schwester, auch ein Cousin und fünf alte Freunde aus Portugal reisten an. Sie fragten bei Krankenhäusern und der Feuerwehr nach, schrieben Mails an Rettungsstellen. In Suppenküchen und Obdachlosenheimen machten sie Aushänge. Vor allem klebten sie tausende Poster mit dem Foto und einer Telefonnummer für Hinweise.
Jetzt schaut Afonso Tiago von allen möglichen Wänden, Laternenpfählen, Bushaltestellen. Er sieht sehr fröhlich aus auf den Bildern, hat ein breites, sympathisches Lachen. Wenn Catarina Tiago an den Postern vorbeikommt, sagt ihr Verstand: Es ist gut, die Plakate hängen noch. Gleichzeitig tut es ihr weh, ihren kleinen Bruder da zu sehen. Er ist ihr so vertraut, und nun klebt sein Bild unter dem Wort "Vermisst".
Die Freunde aus Portugal reisten nach einer Woche wieder ab. Ohne ein Lebenszeichen von Afonso.
Das Notfalltelefon, dessen Nummer auf den Plakaten angegeben ist, haben die Schwester und der Cousin immer bei sich. Wenn es klingelt, schrecken sie zusammen. Manchmal rufen Leute an, die fragen, wie sie helfen können. Einmal war eine Frau dran, die glaubte, Afonso Tiago gesehen zu haben, am Linden-Center in Hohenschönhausen. Er sei orientierungslos gewesen, habe verwirrt gewirkt.
Sofort ratterte es in den Köpfen von Afonsos Angehörigen: Natürlich, das könnte sein. Vielleicht ist er hingefallen, hat sich verletzt, die Erinnerung verloren. Sie verständigten die Polizei. Ohne Ergebnis. "Wahrscheinlich eine Verwechslung", vermutet die Schwester.
Wie viele Wochen werden sie diese Suche noch fortsetzen können? Catarina Tiago sagt, sie denke im Moment nicht weiter als bis zum nächsten Tag. Sie bete viel, das helfe ihr. Abends setzen sie sich zusammen und überlegen, was am Morgen ansteht. "Es gibt Menschen, die werden seit zehn Jahren vermisst", sagt der Cousin nachdenklich. Wie soll man mit dem Nichtwissen weiterleben? Er schüttelt den Kopf. "Wir hoffen, dass uns das nicht passiert, dass diese Geschichte bald ein Ende nimmt."
Ein Ende, das kann viel bedeuten. Wäre es besser, auf einen Leichnam zu stoßen, als nie wieder etwas zu hören? Die Schwester senkt die Stimme. "Es hört sich traurig an. Aber ja, für meine Eltern wäre es besser, man würde zumindest seinen Körper finden."
Sie schieben die finsteren Gedanken beiseite, schmieden neue Pläne. Richtig lebhaft werden sie, wenn sie darüber sprechen, was man noch alles tun sollte. 2.000 große Poster, in DIN-A1-Format, haben sie drucken lassen. Knapp 800 Euro geben sie dafür aus, die Familie zahlt das. Am Wochenende wollen sie mit Plakaten und Kleister losziehen. Die Menschen sollen sehen: Afonso Tiago wird auch nach drei Wochen noch vermisst.
Werden sie ein Spendenkonto einrichten? Oder die Suche auf andere Städte ausdehnen? Catarina Tiago sagt: "Ich hoffe, das ist nicht nötig. Ich hoffe, wir finden ihn bald."
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