Eigentlich wollte ich baden gehn

■ Zum Eröffnungsfest der „Endlichkeit der Freiheit“ im Stadtbad Prenzlauer Berg

Stellen Sie sich ein Schwimmbad vor, so ein solides Altberliner Jahrhundertwende-Bauwerk in ausgereiftem Ludwig -Hoffman-Stil, in Ost-Berlin.

Wir wissen ja, was das Unrechtsregime uns ein halbes Jahrhundert oder vier Jahrzente oder 40 Jahre oder 480 Monate oder 1.440 Tage (so wenig?) oder Nächte, quälende Stunden oder was weiß ich wem und was alles angetan hat. Also dieses schöne Schwimmbassin, das von außen wie ein preußisches Realgymnasium, von innen wie ein neogotischrenaissancebarock- und DEFA-Film-mäßiges Pappmachekloster aussieht, ist nicht nur ziemlich auf den Hund gekommen, von morschen Stützbalken, Rissen im Putz, oberschenkelbreiten Lücken im Gemäuer gräßlich entstellt, nein, sie haben uns sogar das Wasser abgedreht. Da stehe ich mit meinem Plastilin- (oder war's Bakelit- oder I-gitt -Igelitt-)Beutel vor dem leeren Bau und stinke aufs Ancien regime und schlage im Kopf schon den Stadtplan auf, mit dem ich nie zurechtgekommen bin (wegen der Faltung!), und zähle mein Kleingeld und zweifle, ob, wenn ich überhaupt ein Stadtbad fände drüben im Westen (gibt's bestimmt nich mehr, ham ja alle Swimmingpool), ob die wohl meine Ostpenunse von 50 und 20 Pfennich Spielzeugtalern übernehmen (in summa 2,40 M/DM), denn mit meinem blauen Ausweis (Aufdruck: OST) wird kaum ein Freischwimmzug zu machen sein. Und das ganze Becken ist leer. Total trocken wie ich, gerade jetzt, wo ich mich hier in warmer Chlorwasserlauge treiben lassen will. Nichts ist drin, nur - das muß ein Traum sein - altes grüngraues Moos wächst auf den Fliesen. Diehabendasjaallessoverkommenlassen denk‘ ich, die ScheißModrowStasiConnection, die ham nich‘ nur das Wasser für ihre Pools in Pankow geklaut, die ham auch noch alles zuwachsen lassen. Bestimmt haben die von unten die Kacheln abgeschraubt, da ist der Rasen durchgekommen. Sicher gibt's auch Ratten da unten. Tatsächlich, hinter mir bewegt es sich, schwarze Wagen fahren vor, mit abgeschminkten Nummern, Politiker stürzen heraus, im gleißenden Anzug, und steigen ins begrünte Becken. Donnerwetter, auch ein Bürgermeister (ohne Toupe) ist dabei - oder isses wieder Manne Krug und doch der letzte DEFA-Film? -, und hinter der bestrahlten Glatze schlurft (auch die Kirche ist dabei) der lebende Bart des Patriarchen mit dem Behindertenlächleln vom Innenstadtrat (Ost). Vielleicht gehört dem schon der Laden, und er gibt jetzt seine erste Party. Denn vorn am Beckenrand, dort natürlich, wo's am tiefsten ist, da stehen die Instrumente eines Jazzorchesters, wie ein Rest aus der Titanic. Immer mehr Volk drängt in den Saal und ins Becken. Die Galerie mit ihrem Wandelgang und den verkitschten Rundbögen aus Gips (Motive aus dem Schwimmerdasein) füllt sich mit grinsenden Gesichtern. Kellner fahren auf Rollschuhen (oder sind's Schwimmflossen?) durchs Beet und bieten Gebratenes feil, auf Tabletts in Badehosenform. Weißwein in roten und Rotwein in weißen Gläsern wird geboten, und ich klemme meinen Beutel mit Handtuch und Badekappe fest zwischen die Knie, nehme ein Glas und ein überbackenes Tier, das übrigens schmeckt wie Günther Mittags Waffe gegen den Hot dog - die Ketwurst. Wehmütiger Biß und wütender Geschmack. Im Bad wird es voll und voller, schuhbraune Haut über blutroten Lippen, blutrote Lippen über chlorweißen Zähnen, die blecken herum wie berühmt (ich kenne keinen, find‘ aber alle okay), und die gesunde Krebsbräune der Beine, mancherorts bloßliegenden Bäuche, bewegt sich tratschend und gelangweilt um sich selbst. Glitzernde Klunker, fransende Löcher (in Hosen) und Grundton Braun aus Ost unterliegt Grundton Brauner aus West. Nur ein echtes Braun, das ist Gelb, von Tahiti oder so, und ein echtes Schwarz, das allerdings ist blondiert über der Stirn, treiben sich rum, von Blicken seziert. Zwischendurch bunte Glatzen, buntere Titten (Schwänze sind noch nicht zu sehen), und jetzt geht endlich das Licht aus, ein Mikrophon jault wie ertrunken, und der Bürgermeister (ohne Toupe) tritt auf die Bühne, in ein Instrument und beschwört den Anlaß der Orgie ... Nein, ich hab‘ noch was vergessen. Sie haben auch einen Film gezeigt, quer über das Becken; da standen alle im Gras (war nämlich Rollrasen) und auf der Galerie, waren sehr still und staunten auf das Bild, von dem einer zu ihnen sprach. Sie haben atemlos gelauscht, die einzige Stille im Raum, der sonst klirrte von falschen Dialekten. Ja, genau, das war die Stelle aus Orwells Roman, und Orwell, der Müller heißt, hat zu uns gesprochen. Auch als der Bürgermeister sprach, klirrten sie weiter mit Stimmbändern und Taschen, Gläsern und Ketten, mit allem, was ihnen gehörte, trieben sie Krach. Aber er beschwor den Anlaß des Festes, hemmungslos: das Ende der Freiheit. Doch er meint eigentlich den Anfang der Freiheit, das hat ja auch jeder verstanden. Und da war noch von Kunst seine Rede und der restlichen Welt, die auf die Stadt blickt, in der das Schwimmbad steht. Also Welt, die ins Schwimmbad sieht, Ozonloch, Busspur, Wassermangel und so weiter. Kunst und Welt in Berlin; da hätten sie Masken aufgestellt hüben und drüben, um der Stadt ihr wahres Gesicht vorzuführen. Von viel Licht war die Rede und von Ideen, und inzwischen ersoffen alle im eigenen Schweiß. Vor dem Gewitter an diesem letzten August, am letzten Sommertag des Jahrhunderts hub die Kapelle zum Spiel an, und die Flut sprang aus den Kanalisationsdeckeln durch den Beckengrund und mengte sich mit dem stinkenden Schweiß der Parfümleichen ringsum. Ich legte schnell meine Badekappe an (Nummer 006), schwamm eine Runde, rettete niemanden und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Dort sah ich in ein Buch, das ich im Vorbeischwimmen aus der Kloake gefischt hatte, und überlegte, wo ich zuerst meine Bombe anbringen sollte: am Regallager von Barbara Bloom im Naturkundemuseum oder in der Wohnung von Meier in der Pasteurstraße 40 (11 bis 17 Uhr, Di. bis So.) oder am Joint-venture neben dem Gropius-Bau oder an der Freiheit, die jetzt gesponsert wird, von Hans Haacke oder im Raum vom verwundeten Affen von Frau Horn oder am Ohne Titel im Umspannwerk oder gleich am Arbeitsamt von Ost-Berlin.

Gerd Gabel, Weltfriedenstag 199