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■ Eigentlich will die französische Justizministerin Elisabeth Guigou mit einem neuen Gesetz Opfer von Verbrechen besser schützen. Tatsächlich beschneidet ihr Entwurf die Rechte der Pressefotografen  Aus Paris Dorothea HahnAngriff auf die Pressefreiheit

Der Pariou, ein Vulkan im Zentrum Frankreichs, Symbol der Region Auvergne, gehört allen. Zumindest dachten das die Franzosen bislang. Auch die Fotografen.

Sie könnten sich getäuscht haben. 104 Eigentümer von Vulkangrundstücken haben Mitte Oktober die Illustrationsagentur La Photothèque verklagt, weil diese eine Luftaufnahme von „ihrem“ Pariou für Werbezwecke verwendet. Die Anwohner befürchten, dass ihnen infolge der Verbreitung des Fotos „Nachteile“ entstehen könnten, zum Besipiel durch zusätzliche Spaziergänger. Sie fordern 190.000 Francs Schadenersatz – etwa 57.000 Mark.

Die Klage der vermeintlichen Vulkaneigentümer vom 13. Oktober ist kein Einzelfall. Seit zehn Jahren nehmen die Schadenersatzforderungen gegen Fotografen in Frankreich kontinuierlich zu. Sie alle beziehen sich auf den Artikel 9 des Code Civil (eine Art französisches BGB), der das Recht am eigenen Bild besonders umfassend schützt.

Die bedrängte Zunft der Fotografen, Bildagenturen und französischen Illustrierten fand bisher keine Strategie, mit der sie auf den offensiven Umgang ihrer Landsleute mit Artikel 9 reagieren könnte. Jetzt steht ihnen neue, noch schwerere Unbill bevor. Sie kommt aus dem Hause der sozialistischen Justizministerin und ist Teil einer dringend nötigen Reform der französischen Justiz. Elisabeth Guigou will mit ihrem „Gesetzentwurf zum Schutz der Unschuldsvermutung und des Rechtes der Opfer“ Inhaftierten den Zugang zu Anwälten erleichtern, die Verfahrenskosten senken und die Prozesse verkürzen. Das Problem für die Fotografen, und damit für die gesamte Öffentlichkeit, steckt in zwei Details des umfassenden Vorhabens: Madame Guigou will die Veröffentlichung von Bildern verbieten, die Verhaftete in Handschellen und an Ketten zeigen. Und sie will verhindern, dass Gewaltopfer in Bildern gezeigt werden, die „einen Angriff auf die Würde des Opfers“ darstellen.

Der Gesetzentwurf ist bereits in erster Lesung angenommen und kommt Anfang nächsten Jahres erneut ins Parlament. Sollte er in geplanter Form verabschiedet werden, könnten einige Fotos, die in der Vergangenheit für Aufsehen gesorgt haben, zukünftig nicht mehr veröffentlicht werden. Jenes zum Beispiel, das den im Februar 1998 ermordeten Präfekten von Korsika in einer Blutlache auf einer Straße in Ajaccio liegend zeigt. Oder die Aufnahme des inhaftierten Bauerngewerkschafters José Bové, der im September ebenso stolz wie provozierend seine gefesselten Hände vor die Kameras hielt. Sogar Bilder, die Weltgeschichte gemacht haben, könnten Opfer des Gesetzes zum Schutz der Opfer werden, befürchten die Fotografen: das nackte vietnamesische Mädchen, das vor den Napalmbomben der USA flüchtet, ebenso wie der erschossene US-Präsident John F. Kennedy.

Justizministerin Guigou bestreitet das. Sie wolle nicht zensieren, sondern das französische Recht dem europäischen anpassen, erklärt sie. Lediglich besonders brutale und niedere Gewaltinstinkte ansprechende Bilder sollten verhindert werden. So lange die Opfer sich nicht selbst in ihrer Würde verletzt sähen, könnten die Bilder erscheinen. Und wenn sie einverstanden wären, dürften auch Verhaftete in Handschellen gezeigt werden.

Der Fotobranche genügen derartige Schlichtungsversuche nicht. Seit sie im Juni ihr erstes „manifeste pour l'image“ gegen das Gesetzesvorhaben veröffentlicht hat, gibt sie keine Ruhe mehr. Beim Foto-Festival von Perpignan, „Visa pour l'Image“, wurde ein neuer Appell gegen das Guigou-Gesetz formuliert. Und beinahe wöchentlich bilden sich neue Initiativen. Christian Caujolle, Chef der Agence Vu in Paris, droht damit, eines Tages „alle Fotos in allen Medien mit einem Balken über dem Gesicht“ zu zeigen, „vom Präsidenten bis zu irgendwelchen Unbekannten, damit klar wird, was dieses Gesetz bedeutet“. Und Göksin Sapahioglu von der Fotoagentur SIPA möchte der Ministerin die Namen und Argumente all jener Leute vorlegen, die sich gegen ihr Gesetz aussprechen. Neben weltweit bekannten Fotografen wie dem Alltagsfotografen Henri Cartier-Bresson und dem Bildreporter Sebastiao Salgado gehören dazu auch zahlreiche Menschenrechtsorganisationen. Beifall findet die Sozialistin Guigou paradoxerweise vor allem extrem weit rechts. Bei der Union der katholischen Familien Frankreichs beispielsweise.

Tatsächlich sind in Frankreich mehr Menschen in Handschellen zu sehen als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das kann man nicht nur in den Medien beobachten, sondern gelgentlich sogar in einem ganz gewöhnlichen Zug. Oft tragen die Verhafteten nicht nur Handschellen, sondern sind zusätzlich noch angekettet. Kollektiv stellen die Fotografen deswegen nun die Gegenfrage an die Ministerin: „Wer muss verurteilt werden? Jener, der seine Macht missbraucht und Menschen mit Handschellen fesselt? Oder jener, der – um diesen Missbrauch anzuprangern – das Bild des Gefesselten veröffentlicht?“

Die Kritiker werfen der Ministerin auch vor, sie ermuntere die Franzosen zu noch mehr Klagen gegen Fotografen – dabei würden die schon jetzt von einer Prozessflut überrollt. Da holt sich ein Beleuchter des Pariser Neubauviertels La Défense vor Gericht 240.000 Francs (etwa 72.000 Mark) von einem Postkartenhersteller, der Bilder der in Kunstlicht getauchten futuristischen Idylle verkauft. Da erklagt ein Vater, dessen Tochter sich wissentlich im Rahmen eines harmlosen Familienporträts ablichten ließ, nachträglich 33.000 Francs (10.000 Mark) von der Fotografin Claudine Doury. Da macht eine Fotografierte, die ihrer Abbildung zugestimmt hatte, kurz vor der Veröffentlichung ihres Bildes in einem Buch einen Rückzieher...

Seit immer mehr Prominente die Veröffentlichung ihrer Bilder vor Gericht untersagen, seit die Rolle der – inzwischen freigesprochenen – Paparazzi beim Unfalltod der englischen Prinzessin Diana eine öffentliche Debatte auslöste und seit sich Anwälte auf das lukrative Geschäft mit den schadenersatzfähigen Fotos in den Medien spezialisiert haben, ist der Artikel 9 mit seinen Möglichkeiten landesweit bekannt geworden. Viele belangte Medien geben Schadenersatzforderungen an die Fotoagenturen weiter. Und diese versuchen nicht selten, sich bei ihren Fotografen schadlos zu halten.

Längst holen Fotografen in Frankreich deswegen systematisch schriftliche „Autorisierungen“ ein, wenn sie Porträtbilder machen. Da das in vielen Fällen – beispielsweise bei Demonstrationen und anderen Bildern von Menschenmengen – nicht möglich ist, gehen die Medien verstärkt dazu über, ihre Geschichten mit gestellten Bildern zu illustrieren oder Fotos aus dem Ausland zu nutzen, wo die Gesetze andere sind. Selbst zu tagesaktuellen politischen Themen wie der 35-Stunden-Woche waren jüngst in französischen Medien Bilder von bezahlten Mannequins zu sehen.

Die Arbeit des Fotografen in Frankreich wird schwerer. Schon jetzt werden Alltagsbilder aus Frankreich selten. Eine weitere Verdrängung des Fotos will die Branche nicht hinnehmen. „Was wir machen, ist für die Geschichte“, sagt Agentur-Chef Sapahioglu trotzig, „das kann kein Gesetz verhindern. Wir werden weiter fotografieren.“

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