: „Ehre den Juden — jedem einzelnen“
■ Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Juden zu den November-Pogromen erstmals in Ost-Berlin Galinski: Zuwanderung der Juden aus Osteuropa ist eine Chance für dezimierte jüdische Gemeinden
Berlin (dpa/adn/taz) — Die große Sorge von Heinz Galinski, daß das Gedenken an die Reichspogromnacht vor 52 Jahren im öffentlichen Bewußtsein verdrängt wird durch den Tag der Maueröffnung, schien zumindest für diesen 9.November in Berlin nicht zu stimmen. Die große Synagoge in der Rykestraße war bis auf den letzten Platz besetzt. Unter den Besuchern der zentralen Gedenkveranstaltung der jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland waren auch einige kürzlich aus der Sowjetunion emigrierte jüdische Familien.
Die jüdische Zuwanderung aus Osteuropa war auch ein Thema der Ansprachen. Heinz Galinski erwartet durch eine Zuwanderung der Juden aus anderen Ländern eine neue Chance für die dezimierten jüdischen Gemeinden, vor allem in Ostdeutschland. „Das jüdische Leben in diesem Lande verkümmern zu lassen, würde bedeuten, sich im nachhinein noch einmal dem Willen des nationalsozialistischen Staates zu beugen.“ Die Vereinigung Deutschlands stelle die Juden vor neue Aufgaben.
Vor der nationalsozialistischen Katastrophe lebten mehr als 540.000 Glaubensjuden in Deutschland, heute nur noch knapp 30.000, auf dem Gebiet der alten DDR vielleicht maximal 400. In Städten wie Leipzig oder Dresden leben heute kaum mehr Juden, als zur Aufrechterhaltung des religiösen Alltags vorgeschrieben ist. Galinski erinnerte an ein Wort des amerikanischen Generals Lucius D. Clay, wonach die Demokratie in Deutschland eines Tages daran gemessen werde, inwieweit jüdisches Leben wieder möglich sei.
Auch Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ging in einem Nebensatz auf die jüdische Zuwanderung ein. Deutschland, sagte sie, „muß ein offenes Land sein für alle jüdischen Bürger, die bei uns leben und arbeiten wollen.“
Der 9. November 1989 müsse, so Süssmuth, immer im Zusammenhang mit dem 9. November 1938 gesehen werden. „Es wäre um die Zukunft der Deutschen schlecht bestellt, sollten sie diesen Zusammenhang nicht begreifen.“ Kein Wort verlor die Bundestagspräsidentin allerdings zu dem gescheiterten Begehren des Zentralrates der Juden, diesen Zusammenhang in der Präambel des Einigungsvertrages festzuschreiben.
Für Berlin versprach Bausenator Nagel, daß die Stadt sich dafür einsetzen wird, daß „alle nach Berlin kommenden osteuropäischen Juden aufgenommen werden“ und die Stadt die „materiellen Voraussetzungen“ einer Integration in Gesellschaft und Gemeinde leisten wird.
Der Präsident der Akademie der Künste Berlin, Walter Jens, mahnte auf der Gedenkveranstaltung an, nie zu vergessen, daß das alte Deutschland, die Kulturnation Lessings und Mendelssohns, mit seinen jüdischen Bürgern in Birkenau, Sotibur und Theresienstadt zugrunde gegangen sei. „Dieses Deutschland wurde verspielt, auch wenn es nach dem 9.November 1989 wieder auferstanden ist: Es wird, als Staat ohne Juden, nicht mehr das alte Deutschland sein.“ Mehr als bisher sollte man die einzelnen ins Blickfeld rücken, ihre Individualität, ihre Widerborstigkeit, ihren Witz. „Ehre den Juden — jeden einzelnen“, sagte Jens.
Die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat den 52.Jahrestag des Novemberpogroms zum Anlaß genommen, sich mit einer Bitte an die ostdeutsche Bevölkerung zu wenden. Erstellt werden soll ein „Synagogen-Gedenkbuch“, in dem alle von den Nazis zerstörten Stätten jüdischen religiösen Lebens verzeichnet sind. Die bisherigen Forschungen haben ergeben, daß in der Pogromnacht 1.400 Gebetshäuser niedergebrannt oder verwüstet wurden. 800 jüdische Bürger wurden alleine in dieser Nacht ermordet. Die bis heute üblichen Angaben, daß 191 Synagogen und knapp 100 Menschen ermordet wurden, seien von der Nazipropaganda zur Verharmlosung in die Welt gesetzt worden. Yad Vashem bittet um authentische Berichte über das jüdische Leben: Wo standen Synagogen, Gemeindehäuser etc. Interessenten schreiben an folgende Adresse:
Synagogen-Gedenkbuch, Bone Hachoma 3, Old City, Jerusalem 97 5000, Israel
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