: Echte Typen
KULTURSCHAFFENDE Günter Ermlich sprach mit dem Maler und der Designerin, der Vermieterin, dem Koch und der Gästeführerin
■ Manfred Vollmer, 1944, studierte Fotografie an der Folkwangschule Essen.1979 gewann er den ersten Preis beim World Press Fotowettbewerb in der Kategorie „News Picture Stories“ mit einer Serie über die Ölpest in der Bretagne 1978. Der Fotojournalist lebt und arbeitet im Ruhrgebiet.
■ Besonders beschäftigt ihn das Thema Arbeitswelt und Strukturwandel, nicht nur im Ruhrgebiet. In dem und für das Kulturhauptstadtjahr ist er selbstverständlich rastlos im Einsatz.
■ Veröffentlichungen Mit Wolfgang Berke hat Vollmer mehrere Bücher zum Ruhrgebiet veröffentlicht, die alle im Essener Klartext Verlag erschienen sind: „Bilderbuch Ruhr. Faszination Industriekultur – Neues Leben in alten Buden“. 19,90 Euro „Ruhrgebiet. In Echt!: No kidding!“ 19,95 Euro „Oben. Haldenlandschaft Ruhrgebiet“. 19,95 Euro
Schönes Zechenkind
ANIKA BELLER-KRAFT Unikate aus Bergmannskleidung
Ich bin ein Ruhrpottmädel aus Dortmund“, sagt Anika Beller-Kraft, „quasi selbst ein Zechenkind.“ Zechenkind hat sie auch das Designlabel getauft, das sie vor anderthalb Jahren gründete. Mit der Ruhrpottmarke startet die Mittdreißigerin seitdem erfolgreich durch. Mit anderen Kreativen teilt sich die Textildesignerin ein Atelier auf einer Fabriketage des Union Gewerbehofs unweit des Dortmunder U, des Zentrums für Kunst und Kreativität, am Rand der Innenstadt. Aus recycelter Bergmannskleidung – Jacken, Hosen und Hemden, die Kumpel unter Tage getragen haben – fertigt Anika Beller-Kraft Taschen und kleine Accessoires wie Schlüsselbänder, Portemonnaies, Handytaschen. „Ich hauche denen neues Leben ein“, sagt die Designerin.
Alle Zechenkinder sind handgemachte Unikate. Denn der Kohlenstaub verfärbt den anfangs schneeweißen Stoff beige, grau, braun. Je länger die Bergleute Hemd und Hose trugen, desto dunkler die Färbung des groben Materials. Imprägnierte Maloche, daran ändert auch keine Kochwäsche etwas. „In jeder Tasche steckt viel Geschichte des Ruhrgebiets“, sagt die Dortmunderin. Individuell und nachhaltig, so sieht sie ihre Produkte.
Beller-Kraft nennt ihre Zechenkinder nach alten Zechen im Ruhrgebiet. Das bunte Modell, „sehr blümerant“, mit Borten, heißt General Blumenthal wie der ehemalige Pütt in Recklinghausen. Das sportliche Querformat nennt sich Tremonia wie das einstige Steinkohlebergwerk (Tremonia ist lateinisch und heißt Dortmund.) Sein hochformatiger Bruder hört auf Hercules. Friedlicher Nachbar, eine frühere Zeche in Bochum-Linden, wäre ein prima Name für ein weiteres Zechenkind.
Zechenkind schafft viel Handarbeit. 15 langzeitarbeitslose Frauen aus Hagen schneidern die Modelle für die Jungunternehmerin, die selbst kaum mehr an der Nähmaschine sitzt. Wie alles anfing? Ihre Mutter ist Schneiderin, die kleine Anika wuchs zwischen Nähnadeln und Schnittmustern auf, stand für die Mama Modell. Später ließ sich Anika zur Orthopädie-Mechanikerin ausbilden – „da machte ich Korsetts und Mieder“ –, bevor sie Journalismus an der TU Dortmund studierte. Und nebenbei aus Spaß für Freunde Taschen nähte, die ersten aus bedruckten Kaffeebohnensäcken vom Bremer Flohmarkt. Und rasch merkte, „dass der Zuspruch sehr groß war. Die Nachfrage ist so groß, dass Anika Beller-Kraft mit der Produktion kaum hinterherkommt. „Das ist ein Luxusproblem“, sagt sie. Schon seit einem halben Jahr plane sie eine neue Kollektion. Ihre Produkte vertreibt sie über einen Onlineshop und über Händler. Bei allen Zechenkindern steht „Made im Ruhrgebiet“ drauf. Hoch lebe die regionale Identität!
Ruhrstadt-Maler
ARIYADASA KANDEGE Viel Farbenfrohsinn
Die Heimat von Ariyadasa Kandege ist Sri Lanka, Essen seine Wahlheimat. „Mittlerweile ist Essen aber meine erste Heimat“, sagt der kleine Mann mit dem schneeweißen Scheitelhaar, „weil meine besten Freunde hier leben.“ Der Hotel- und Restaurantfachmann ist vor 33 Jahren nach Deutschland gekommen. An der Gesamthochschule Essen hat er fünf Semester Kunst studiert. Anfang Juni hat er seinen 60. Geburtstag groß gefeiert,. Seit letztem Jahr darf er sich ganz offiziell „Ruhrstadtmaler“ nennen, weil er seine Marke beim Deutschen Patent- und Markenamt schützen ließ. Stolz zeigt er auf die Urkunde mit Bundesadler, die in seinem Atelier im Unperfekthaus (UPH) hängt.
Das UPH liegt mitten in der Essener City. 4.000 Quadratmeter groß, sieben Etagen hoch, bietet das Künstlerzentrum viel Freiraum für Kreative. Ariyadasa Kandeges kleines Atelier, Raum 105, spiegelt kreatives Chaos. An den Wänden hängen seine fertigen, auf den Staffeleien stehen seine unfertigen Gemälde, alle mit Farbenfrohsinn und Hingabe zum Detail. Meist malt er Stadtlandschaften des Ruhrgebiets.
Als sich Essen vor sechs Jahren für das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas 2010 bewarb, war das für Kandege der endgültige Kick, sich malend ganz dem Ruhrpott zu widmen. Seitdem bannt er immer wieder Essen, aber auch Nachbarstädte wie Bochum, Duisburg oder Oberhausen mit ihren markantesten Motiven mit Öl auf die Leinwand. Kandege benutzt Luftbilder, Google Earth, Karten, bevor er in die jeweilige Stadt fährt und sie von den höchsten Gebäuden aus fotografiert. Anschließend porträtiert er die Stadt aus der Vogelperspektive. Das Originalgemälde einer Ruhrstadt, an dem Kandege sechs Monate arbeitete, kostet 15.000 Euro, die Reproduktion – Fine Art Print auf Leinwand – gibt es für 550 Euro. Aber der Wahlessener übernimmt auch ruhrpottfremde Aufträge, pinselt Naturlandschaften für indische Restaurants in London oder Gelsenkirchen, kunterbunte Wandfresken für Saunaklubs und Partykeller. Sein Motto? „Osten oder Westen – Ruhrstadt ist am besten.“
www.kandege.de www.unperfekthaus.de
Smarter Grillmeister
RAIMUND OSTENDORP
Punkt elf Uhr, der „Profi-Grill“ hat gerade geöffnet, verlangt der erste Kunde schon „eine Frikadelle und einen Kaffee, wie immer“. Die Bude liegt an der Bochumer Straße in Bochum-Wattenscheid. Graue Häuser, Durchgangsverkehr, Straßenbahnschienen. Hartz-IV-Land. 45 m[2]Schnellimbiss. An den Wänden Bilderrahmen mit Zeitungsausschnitten, Urkunden und Wurst-Pommes-Motive. „Eine Bude muss einfach sein“, sagt Raimund Ostendorp, der Besitzer. Gründlich satt hat der 42-Jährige, ein Schlaks mit welligem Haar, die Medienberichte mit dem Mantra: „Drei-Sterne-Koch betreibt Imbissbude“. Denn er war nie Sternekoch, stellt er richtig, sondern kochte nur in einem Düsseldorfer Sternerestaurant. Schon mit 21 Jahren stieg Ostendorp aus – zu viel Stress und Chichi – und machte sich mit dem Profi-Grill im Dezember 1990 selbstständig.
Statt Trüffel und Gänseleber Wurst und Pommes. Zwölf Uhr mittags. Die Bude ist rappelvoll. Ostendorps Helferinnen, früher Jugoslawinnen, heute Polinnen, servieren die Gerichte auf weißen Tellern und mit Besteck. Der Ruhrpottklassiker Currywurst-Pommes-Mayo, dazu ein Petersilienblatt, ist der Renner. Rücken an Rücken sitzen Metallbauer in Arbeitskluft und zwei ältere Ehepaaren aus Aachen im feinen Zwirn. Nachbarn und Touristen, Grundschüler und Greise, Arbeitslose und Manager. Dieses Wir-Gefühl des Ruhrgebiets, sagt Ostendorp, zeige man Leuten von außen am besten, „wenn man zu mir essen kommt.“
Vermieterperle
INGEGRET JOSEFS
Ingegret kommt aus dem Germanischen und bedeutet „die von Ingolf geschätzte Perle“. Erklärt Ingegret Josefs und lacht. Überhaupt lacht die Ruhrpott-Perle viel und gern, wenn sie ihren Gästen Dönekes erzählt. Obwohl keiner aus ihrer Familie beim Bergbau war – „das waren Korinthenkacker“, „alles Beamte“ –, schöpft sie aus dem biografischen Fundus von einer, die auf Kohle geboren wurde. „Keiner verlässt mir die Wohnung, der keine Führung auf Zollverein gemacht hat“, sagt sie streng. Und lacht wieder. In ihrem Haus von 1919 vermietet Frau Josefs die komplette Dachgeschosswohnung – Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad/WC. Sie gehört zu den 56 Vermietern, die im Essener Norden für Touristen Unterkünfte im ehemaligen Zechenmilieu anbieten.
Seit Zollverein Touristik im Jahr 2002 das Projekt „Übernachten unterm Förderturm“ rund um das Weltkulturerbe Zeche und Kokerei Zollverein startete, ist die Nachfrage nach Privatquartieren gestiegen. In diesem Jahr verzeichnet Zollverein Touristik schon 2.500 Übernachtungen – die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 zieht viele Besucher. Zwischen 20 und 60 Euro – je nach Komfort und Ausstattung – kostet die Nacht pro Nase. Meist hat Frau Josefs „guten Mittelstand“ zu Besuch. Vom Bett aus können Josefs Gäste auf den rostroten Doppelbock von Zollverein blicken. Wenn sie wieder mal das viele Grün vor dem Fenster bestaunen – „Sie haben ja Bäume!“ – kontert die 69-Jährige trocken: „Wir haben sogar fließend Wasser!“
Sportiver Tourguide
MELANIE HUNDACKER Mit dem Bike zwischen Hattingen und Villa Hügel
Sie ist „Ruhri aus Leidenschaft“. Als Tourguide begleitet Melanie Hundacker Gruppen durch das Ruhrgebiet. Sportlich, outdoor. Rund 100 verschiedene geführte Touren hat die Inhaberin von „simply out tours“ mittlerweile im Programm: Radeln, Joggen, Wandern, Trekken, Mountainbiken, Klettern. Die Palette der Angebote reicht von Mehrtagestouren und Trainingslagern bis zu Firmenevents und Geburtstagsfeiern. „komm & guck das Ruhrgebiet“ lautet ihre Einladung und die ihrer ausgebildeten Gästeführer.
In ihrem Büro, auf dem Gelände einer ehemaligen Schraubenfabrik in Essen-Horst unweit der Ruhr, erzählt Melanie Hundacker, dass sie mit ihren sportlichen Ausflügen die noch immer wild wuchernden Klischees und Vorurteile über das Ruhrgebiet abbauen und ein realistisches Bild von Natur und Kultur vermitteln will. Dass die Wäsche auf der Leine nicht mehr schwarz wird. Dass die Besucher bei einer Radtour quer durch Essen überrascht sind und feststellen: „Boah, ist das grün hier!“ Dass es hier keineswegs nur flach ist und auch Mountainbiker auf ihre Kosten kommen, wenn Melanie, selbst passionierte Mountainbikerin, mit ihnen auf den Ruhrhöhen zwischen der Isenburg in Hattingen und Villa Hügel in Essen unterwegs ist. „Ich möchte fürs Ruhrgebiet positive Emotionen wecken“, sagt sie im Brustton der Überzeugung. Melanie Hundacker stammt mitten aus dem Pott, wurde vor 38 Jahren in Essen-Altenessen, im Schatten von Zeche Zollverein, geboren. Noch bildlich vor Augen hat sie die vielen weißen Wolken, die vom Ablöschen des Kokses über der Kokerei in den Himmel aufgestiegen sind. Ihr Opa und Cousin waren auf dem Pütt, ihr Vater arbeitete bei den Essener Eisenwerken, sie selbst hat Aluminium-Recycling gelernt und Stahl verkauft. Heute lebt sie vom Tourismus.
„Strukturwandel in einer Person“, sagt Melanie und lacht. Am Anfang stand eine Ausbildung zur Industriekauffrau, dann studierte sie Marketing und Management, war als Reiseleiterin in Island und Thailand unterwegs, ließ sich schließlich zur Trekking- und Bergsporttrainerin ausbilden. Als das Kulturhauptstadtjahr wetterleuchtete, wagte Melanie Hundacker den Sprung in die Selbstständigkeit und gründete 2006 simply out tours. Was die sportliche Allrounderin bisher nie bereut hat.
In diesem Feierjahr hat sie mehr als doppelt so viele Buchungen. „Wir sind voll ausgelastet“, sagt sie und fügt im Duktus einer Leistungssportlerin hinzu: „Ich gebe alles!“ Ihre Lieblingsecken? Da muss die intime Pottkennerin nicht lange überlegen. „Der idyllischste Fleck ist entlang der Ruhr zwischen Essen und Hattingen.“ Und klar doch, Zollverein, Inbegriff der Zechenromantik, das „Supermodel der Industriearchitektur“. Sie sei immer stolz, Gäste auf Zollverein führen zu können. Das Lebensgefühl von früher rüberzubringen, das schafft sie spielend.
Wer Melanie Hundacker bei einer Besichtigungstour, vielleicht beim Sightjogging (laufen und sehen), über das weitläufige Areal schon einmal begleitet hat, kann dem nur zustimmen.